Die Zukunft braucht Kosmopoliten

Die tschechische Schriftstellerin lenka reinerová erzählt vom Umsturz der Verhältnisse, vom Schrecken der Vergangenheit und von den Möglichkeiten der Freiheit.

Zwei Entwicklungen bestimmen gegenwärtig die Diskussionen auf dem alten Kontinent: der Führungsanspruch Kerneuropas und der EU-Beitritt der osteuropäischen Länder. Das alte und das neue Europa treffen zusammen, und wohl in kaum einer anderen Stadt verbinden sich ihre unterschiedlichen Vergangenheiten so sehr wie in Prag. Während westeuropäische Intellektuelle wie Jürgen Habermas »Kerneuropa« als eine Metapher für Fortschritt und Gerechtigkeit verklären, erzählt die Biographie Lenka Reinerovás eine andere Geschichte.

Die letzte deutschsprachige Schriftstellerin in Prag erlebte in dem »kurzen Jahrhundert« (Eric Hobsbawm) das Versagen Europas angesichts der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Es folgten Flucht und Exil und anschließend ein Leben unter den autoritären Bedingungen des realexistierenden Sozialismus. Reinerová erlebte die Säuberung der kommunistischen Bewegungen von den »kosmopolitischen Elementen«.

Die 87jährige lebt heute in Prag. Vor kurzem erschien ihr Buch: »Die Farben der Sonne und der Nacht«, Berlin, Aufbau-Verlag, 2003. Mit ihr sprach Anton Landgraf.

Der EU-Beitritt ist in Tschechien bislang nicht auf große Begeisterung gestoßen, wenn man sich etwa die Wahlbeteiligung bei dem Referendum ansieht. Können Sie das erklären?

Natürlich ist die Zahl derjenigen, die zur Wahl gegangen sind, nicht sonderlich imponierend. Der EU-Beitritt wird hier als Notwendigkeit erachtet. Die meisten sind der Ansicht, dass es dazu schlicht keine Alternative gibt. Daher rührt die fehlende Begeisterung. Es ist doch eine absurde Vorstellung, dass so ein kleines Land mit zehneinhalb Millionen Einwohnern heutzutage eine unabhängige Politik machen könnte.

Gibt es denn die Sorge, dass mit dem EU-Beitritt der große Nachbar Deutschland wieder mehr Einfluss bekommt?

Eigentlich nicht. Der deutsche Nachbar ist ja jetzt ohnehin schon sehr mächtig. So sind beispielsweise die Medien, vor allem die Presse, schon in den Händen von großen deutschen Verlagen. Es besteht in der tschechischen Öffentlichkeit keine Angst, dass hier plötzlich wieder deutsche Truppen einmarschieren. Das funktioniert schließlich heute auf eine viel subtilere Weise.

Und wie sieht es mit dem kulturellen Einfluss aus?

Mittlerweile lernen wieder sehr viele Menschen deutsch. Die Kurse im Goethe-Institut sind ausgebucht. Ich halte das für eine gute Entwicklung. Schließlich bin ich ja die letzte deutschsprachige Autorin in Prag.

Warum schreiben Sie eigentlich deutsch?

Oft werde ich gefragt, warum ich, nach allem, was mir passiert ist und wo meine gesamte Familie im Holocaust ermordet wurde, noch deutsch schreiben kann. Doch die Sprache für das Geschehene verantwortlich zu machen, das wäre Unsinn.

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Die samtene Revolution. Am 17. November 1989 wurde eine Studentendemonstration in Prag von der Polizei niedergeknüppelt. Prager Schauspieler solidarisierten sich daraufhin mit den Studenten und traten in einen Streik. Kurz darauf gründete sich ein Bürgerforum, das Vaclav Havel zu seinem Sprecher wählte. Es kam zu Streiks im ganzen Land. Am 24. November trat der Parteivorsitzende Milos Jakes zurück, ihm folgte der Präsident Gustav Husak. Am 29. Dezember 1989 wurde Vaclav Havel zum Präsidenten der Tschechoslowakei gewählt.

Wie beurteilen Sie die Veränderungen, die sich in Tschechien seit der so genannten samtenen Revolution abgespielt haben?

Entscheidend ist für mich, dass wir endlich weitgehende Freiheit haben. Keine hundertprozentige Freiheit, aber doch eine sehr weitgehende. Der jungen Generation in Tschechien ist die Welt endlich geöffnet worden, sie hat Zugang zu jeglichem Wissen und kann ihre eigenen Erfahrungen machen. Dabei spielt auch dieser unheimliche schnelle Fortschritt in der Informationstechnologie eine Rolle. Es ist nicht so, dass mir heute alles riesig gefällt. Aber das Leben hat andere Formen angenommen.

Haben Sie den Eindruck, dass sich diese Entwicklungen auch in der tschechischen Literatur nach der Wende widerspiegeln?

Ich mag Ihr deutsches Wort »Wende« nicht.

Wieso?

Das ist mir fast physisch unangenehm.

Wie würden Sie den Prozess des Jahres 1989 nennen?

Sagen wir: Umsturz.

Und wie hat sich dieser Umsturz auf die Kultur und Literatur ausgewirkt?

Interessant ist zum Beispiel die Prager Filmhochschule, wo junge und sehr interessante Künstler studieren, die nun zu ihrer eigenen Filmsprache finden. Auch in der bildenden Kunst hat es sehr wilde Veränderungen gegeben. In der Literatur ist das schwieriger, das dauert länger. Zwölf Jahre sind kurz im Vergleich zu einem halben Jahrhundert Diktatur.

Ich ärgere mich immer, wenn von 40 Jahren die Rede ist – als ob die zehn Jahre Nazidiktatur nicht existiert hätten. Wir waren also ein halbes Jahrhundert politisch und kulturell weitgehend isoliert. Das ändert man nicht in ein paar Jahren.

Hinzu kommt ja noch, dass wir ein kleines Land sind und die tschechische Sprache zehn Meter hinter der Grenze kein Mensch mehr versteht.

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Die Slansky-Prozesse. Wie in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks fanden in der CSSR Ende der vierziger bis Mitte der fünfziger Jahre antisemitisch geprägte Schauprozesse statt. Den Angeklagten wurde titoistische, zionistische, kosmopolitische und staatsfeindliche Verschwörung vorgeworfen.

Der Hauptangeklagte Rudolf Slansky war jüdischer Herkunft, seit den zwanziger Jahren Mitglied der tschechoslowakischen KP und von 1945 bis 1951 ihr Generalsekretär. Er wurde im November 1952 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Insgesamt verhängten die Gerichte 233 Todesurteile, 178 davon wurden vollstreckt. Mehrere zehntausend Menschen erhielten hohe Gefängnisstrafen oder wurden in Arbeitslager gesperrt.

In Ihrem neuesten Buch greifen Sie ein düsteres Kapitel der tschechischen Nachkriegsgeschichte auf, die Slansky-Prozesse. Wie sind die Reaktionen?

Zu meinem großen eigenen Erstaunen werde ich bislang gar nicht angegriffen, sondern stoße auf sehr viel Verständnis. Das freut mich natürlich sehr. Denn es zeigt, dass die Menschen über diese Ereignisse nachdenken.

Waren Sie damals über das Ausmaß dieser Prozesse informiert?

Ich wusste wirklich nicht, dass so viele Menschen wegen so genannter Verbrechen zu hohen Strafen verurteilt, ins Gefängnis oder ins Arbeitslager geworfen oder sogar hingerichtet wurden. Ich sage mir immer, du hast hier gelebt, du hast so vieles nicht gewusst, und das wird ja wahrscheinlich in Diktaturen auf viele Menschen zutreffen.

Zu einer offiziellen Anklage kam es nie. Konnten Sie rekonstruieren, was Ihnen damals vorgeworfen wurde?

Tatsächlich habe ich vier verschiedene Voraussetzungen erfüllt, um auf die Liste der Verdächtigen zu kommen. Die vordergründigste bestand darin, dass ich bereits vor dem Krieg Mitglied der Kommunistischen Partei war – das galt plötzlich als sehr verdächtig. Ein zweiter bemerkenswerter Umstand bestand darin, dass ich auf der Flucht vor den Nazis in Frankreich und in Mexiko im Exil lebte. Dann arbeitete ich als Journalistin – ebenfalls eine sehr suspekte Angelegenheit. Zudem bin ich jüdischer Herkunft – das war besonders schlecht. Und schließlich war ich auch noch mit einem Jugoslawen verheiratet.

Bei mir haben so ziemlich alle Voraussetzungen gestimmt, um verdächtig zu erscheinen.

Wieso war ausgerechnet die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei verdächtig?

Viele KP-Mitglieder, die ich vor dem Krieg kennengelernt hatte, saßen wegen angeblicher Vergehen bereits im Gefängnis. Also war ich schon wegen dieser Kontakte suspekt.

Wieso war Ihre jüdische Herkunft bedeutsam?

Während der Slansky-Prozesse wurden 14 Todesurteile ausgesprochen, wobei elf der Verurteilten jüdischer Herkunft waren. Das war kein Zufall. Der Vorwurf des Zionismus wurde bei den Verhandlungen ausdrücklich hervorgehoben. Dabei hatten die Leute gar keine Ahnung, was Zionismus bedeutet. Das wurde einfach so gesagt – und fertig.

Was ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Ein Umstand hat für mich einen besonderen Stellenwert bekommen. Wir durften damals die Zelle nur mit verbundenen Augen verlassen. Das wirkt noch heute auf mich. Ich konnte das Gefängnis, in dem ich inhaftiert war, nie sehen. Ich bin mit verbundenen Augen eingeliefert worden und habe es mit verbundenen Augen verlassen. Ich hatte immer den Wunsch gehabt, das Gefängnis noch einmal zu sehen. Aber erst in der vergangenen Woche habe ich es tatsächlich besucht.

Es war Ihr erster Besuch nach so vielen Jahren?

Naja, eigentlich mein zweiter, aber mein erster als freier Mensch. Im Fernsehen lief kürzlich eine Reportage über das Gefängnis. Da habe ich mir gesagt, ich will es auch in natura sehen. Meine Erlebnisse liegen ein halbes Jahrhundert zurück, trotzdem war es ein erschütterndes Erlebnis. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es auf mich einen solchen Eindruck machen würde. Obwohl sich dort vieles verbessert hat, ist die Tatsache, dass Menschen dort gefangen gehalten werden, ja dieselbe geblieben. Die Zellen sind nach wie vor klein. Es gibt dort jetzt eine Abteilung für Jugendliche, das Untersuchungsgefängnis ist voll besetzt.

Mich hat dies alles sehr beunruhigt, und wahrscheinlich muss ich mit diesem ganzen Komplex erst noch fertig werden.

Gab es in Tschechien seitdem, vor und nach 1989, eine Aufarbeitung dieser Geschichte?

Ich war sicherlich eine der ersten, die im Zusammenhang mit diesen Geschehnissen überhaupt zur Feder gegriffen haben. Schon 1956 war ich mit der ersten Version des Manuskripts fertig. Das heißt, ich habe beinahe unmittelbar nach meiner Entlassung begonnen, alles niederzuschreiben. Damals wollte natürlich niemand etwas davon wissen. Diese erste Fassung wurde schließlich 1968 von einem Verlag angenommen, was ja auch kein Zufall war. Das Buch erschien dann Anfang 1969, es überlebte ein paar Wochen, bis es wieder eingestampft wurde.

Haben Sie auf diese erste Veröffentlichung jemals eine Reaktion erhalten?

Vor kurzem hat sich ein Mann bei mir gemeldet und erzählt, dass er damals in einer Schrottpresse angestellt war. Wenn eine Büchersendung kam, dann hat er zuerst ein Exemplar genommen und es gelesen, bevor es eingestampft wurde. Und so hat er damals »Die Farbe der Sonne und der Nacht« gelesen. Nun rief er mich 40 Jahre später an, um mir für das Buch zu danken. Da war ich zutiefst berührt.

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Prager Frühling und Charta 77. Nachdem es bereits im Herbst 1967 zu Unruhen, Studentendemonstrationen und Kritik an der politischen Führung seitens des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes gekommen war, wurde 1968 der Partei- und Staatschef Antonin Novotny durch Alexander Dubcek ersetzt. Dieser legte ein Reformprogramm vor unter dem Motto: »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«. Das stieß in der Sowjetunion auf Ablehnung. In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 marschierten sowjetische Truppen in das Land ein. Unterstützt wurden sie von Kontingenten aus der DDR, aus Polen, Ungarn und Bulgarien.

Nach diesen Ereignissen meldete sich die Opposition erst 1977 mit der Veröffentlichung der Charta 77 wieder zu Wort. Darin wurde die Einhaltung der Menschenrechte in der CSSR gefordert. Unter den Sprechern der Charta war Vaclav Havel.

Haben die Ereignisse des Prager Frühlings und vor allem um den Slansky-Prozess auch Ihre politischen Überzeugungen in Frage gestellt?

Die sozial gerechte Gesellschaft, die nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Menschen damals vorgeschwebt hat, wurde bislang nie und nirgends realisiert – auch wenn verschiedene Regime oder Staaten dies in Anspruch genommen haben. An dieser Überzeugung hat sich nichts geändert.

Wieso schreiben Sie heute, nach einem halben Jahrhundert, noch mal über diese Ereignisse?

Die Geschehnisse und Handlungen von Menschen werden zum großen Teil aus der heutigen Perspektive heraus betrachtet und nicht aus der historischen Situation, in der sie stattgefunden haben. Das ist ein großer Unterschied. Wie ein Mensch damals reagiert hat, unterscheidet sich sehr davon, wie man heute auf diese Ereignisse reagieren würde. Es war eine völlig andere Welt. Ich werde oft darauf angesprochen, wieso ich fast ausschließlich autobiographisch schreibe. Sehen Sie, ich habe nun fast ein ganzes Jahrhundert erlebt und habe einen solchen Vorrat an Erlebnissen und Eindrücken, dass ich gar nicht das Bedürfnis habe, mir etwas auszudenken. Dazu kommt noch, dass ich mich verpflichtet fühle, über diese Zeit zu berichten.

Glauben Sie, dass die heutige Generation bewusster auf diese Gefahren reagiert?

Ich weiß nicht, ob sich die neue Generation bewusster verhalten wird. Aber sie hat mehr Informationen, mehr Möglichkeiten. Immerhin haben sich jüngst sehr viele Menschen gegen den Ausbruch eines neuen Krieges gewehrt. Das hat es ja in dieser Form eigentlich noch nicht gegeben. Und das zeigt ja nun auch wiederum, das die Menschen, wenn sie mehr erfahren, auch anders reagieren können – hoffentlich.

Haben Sie den Eindruck, nach all dem, was Ihnen widerfahren ist, nun doch Anerkennung für Ihr Werk zu erhalten?

Vergangenes Jahr bekam ich die Prager Ehrenbürgerschaft verliehen. Das freut mich aus zwei Gründen. Erstens habe ich ein sehr inniges Verhältnis zu dieser Stadt. Vor allem und zweitens aber freut mich die Begründung, da ich sie wegen der wechselseitigen Bereicherung der tschechischen, deutschen und jüdischen Kultur in Prag bekommen habe. Das wurde offiziell bislang noch nie so gesagt.

Das klingt jetzt sehr zufrieden. Aber das deutsch-tschechische Verhältnis ist immer noch sehr schwierig.

Das Verhältnis zu den deutschen Landsmannschaften wird sich mit der Zeit auf natürliche Weise lösen. Aber zwei Sachen muss man jetzt schon noch dazu sagen: Die Gründe, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu der Aussiedlung der Deutschen geführt haben, sind ja nicht vom blauen Himmel gefallen. Ich will damit nicht die anschließenden Übergriffe, die es bei der Aussiedlung der deutschen Mitbürger gegeben hat, rechtfertigen. Man sollte nicht Verbrechen mit Verbrechen sühnen.

In welcher Sprache wird die nächste Generation in Prag schreiben?

Ich denke, dass man Literatur nicht von der Sprache, in der sie entsteht, trennen kann. Es gab in Prag Autoren, die tschechisch und deutsch geschrieben haben, die jüdischer Herkunft waren oder nicht. Aber diese Symbiose wird es natürlich nicht mehr geben. Unsere deutschen Mitbürger leben nicht mehr hier, unsere jüdischen Mitbürger sind tot, die Lebensformen sind anders geworden. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass vielleicht eines Tages jemand hier sitzt und auf englisch oder französisch schreibt. Das Gefühl der Zugehörigkeit ist aber schon eine andere Sache. Das ist eine persönliche Entscheidung.

Und wo fühlen Sie sich heute zugehörig?

Ich hätte gerne einen Reisepass, in dem einfach steht: Lenka Reinerová, Bürgerin von Prag. Das würde mir gefallen.

Lenka Reinerová arbeitete für die aus Berlin emigrierte Arbeiter-Illustrierten-Zeitung. Im März 1939 floh sie zunächst nach Paris, später über Casablanca nach Mexiko, wo sie mit ihrem Mann, dem jugoslawischen Schriftsteller Theodor Balk, für die tschechoslowakische Exilregierung tätig war. Nach ihrer Rückkehr wurde sie 1951 im Rahmen der so genannten Slansky-Prozesse inhaftiert. 1968 erhielt sie Schreibverbot und wurde aus der Partei ausgeschlossen.