Slowenische Slowakei

Nach zehn Jahren Trennung nähern sich die Slowaken und die Tschechen wieder an. Demnächst sind sie gemeinsam in der EU. von wolf oschlies

Alexandra Fillová ist die Leiterin der Postzentrale im slowakischen Banská Bystrica, in der Schwerstarbeit verrichtet wird. Allein zwischen Januar und März 2003 mussten 5 227 postalische Irrläufer umdirigiert werden – nach Slowenien. Über die Hälfte dieser vagabundierenden Sendungen kommt aus Deutschland und der Schweiz, was die geographischen Kenntnisse der Deutschen einmal mehr charakterisiert.

Die Slovenská Republika, die bis zum 1. Januar 1993 östlicher Landesteil der Tschechoslowakei war, ist seit zehn Jahren ein souveräner Staat. Sie ist etwas größer als Niedersachsen und so bevölkert wie Hessen. Als sie sich von Tschechien trennte, war die internationale Gemeinschaft, nach den schlechten Erfahrungen mit Trennungen auf dem Balkan, froh über die unblutige, ja zivile Art dieser Scheidung. Auch Prag ließ die Slowaken aufatmend ziehen. Sollten sie doch allein zurechtkommen mit ihrer stalinistisch-nationalistischen Mafia auf allen Staatsebenen, ihrer monostrukturellen Waffenindustrie, ihren ökologischen Wahnsinnsprojekten wie dem Donau-Stauwerk Gabcíkovo-Nagymoros und ihren Dauerkonflikten mit der starken ungarischen Minderheit!

Inzwischen sind beiderseits bemerkenswerte Wandlungen eingetreten. Zum einen genießt man die momentane Lage und ist mit der jeweils eigenen Republik ganz zufrieden. Zum zweiten entdeckt man ehemalige Mitbürger wieder: die Slowaken die Tschechen als gute Arbeitgeber, die Tschechen die Slowaken als Vermieter von preisgünstigen Urlaubsquartieren. Und zum dritten ist seit einigen Jahren eine tschechoslowakische Kulturrenaissance zu bemerken, die in jedem Herbst im »Monat der tschechisch-slowakischen kulturellen Wechselseitigkeit« gipfelt.

In der Retrospektive war das einzig Trennende zwischen den beiden westslawischen Stämmen der Umstand, dass die Slowaken seit dem späten 9. Jahrhundert zu Ungarn, die Tschechen seit dem frühen 17. Jahrhundert zu Österreich gehörten. Eine ethnokulturelle Spaltung setzte erst im späten 18. Jahrhundert mit Anton Bernolák (1762–1813), L’udovít Stúr (1815–1856) und vielen anderen ein, die die Kodifizierung des mittelslowakischen Dialekts, der allen ungarischen und tschechischen Einflüssen am fernsten stand, zur neuen slowakischen Standardsprache betrieben. Der neomagyarische Chauvinismus machte nach 1870 dieser kulturellen Emanzipation der Slowaken dann rasch ein Ende.

Ein Neuanfang bot sich am 30. Mai 1918, als Tomás G. Masaryk (1850–1937) im Pittsburger Abkommen die Tschechen und die Slowaken auf den gemeinsamen Staat einschwor, der am 28. Oktober 1918 proklamiert wurde. Von einer tschechoslowakischen Nation träumte Präsident Masaryk, aber eine auf Prag zentrierte Politik betrieb er, was Slowaken und nationale Minderheiten, darunter 3,5 Millionen Deutsche, verärgerte. Das kam Hitler sehr gelegen, der die Tschechoslowakei im Münchner Abkommen im Jahr 1938 zuerst um das so genannte Sudetenland »amputierte« und im März 1939 völlig zerschlug. Übrig blieben das »Protektorat Böhmen und Mähren« und der »Schutzstaat« Slowakei von seinen Gnaden.

Im Zweiten Weltkrieg leisteten die Slowaken mit ihrem Nationalaufstand 1944 heroisch, aber erfolglos Widerstand. 1948 sorgte ein kommunistischer Putsch in Prag für einen Machtwechsel, nach dem die Slowaken wegen ihres angeblichen »bourgeoisen Nationalismus« dem stalinistischen Terror viele Opfer brachten. Gebrochen waren sie nicht, und im Prager Frühling stellten sie 1968 die vier wichtigsten Männer, die Sicherheit verhießen: den Ministerpräsidenten, den Parteivorsitzenden, den Fußballnationaltrainer und den Eishockeytorwart. So sagte es damals der Prager Volkswitz, aber zutreffend ist, dass der Slowake Alexander Dubcek (1921–1992) mit seinem »Sozialismus mit menschlichem Gesicht« dem osteuropäischen Neostalinismus die bis dahin schwerste Herausforderung bot.

Im August 1968 starb der Traum unter den Panzerketten der Armeen des Warschauer Pakts, darunter natürlich auch die der DDR, und erst 21 Jahre später konnte Dubcek wieder an die Öffentlichkeit treten, vom neuen Präsidenten Václav Havel nach Prag geholt und an die Spitze des Parlaments gestellt. 1992 starb Dubcek bei einem noch immer unaufgeklärten Verkehrsunfall, kurz darauf verschwand auch die Tschechoslowakei von der Landkarte.

Nicht der Wille ihrer Bürger bewirkte ihr Ende, sondern die »Koalition der Angst«, wie Havel sie nannte, die sich in der Slowakei aus denen gebildet hatte, die vom Prager »Lustrationsgesetz« eine Aufdeckung ihrer Verbrechen zu kommunistischen Zeiten befürchteten. Chef der Koalitionäre war Vladimír Meciar, dessen nationalistisch-totalitäre Bewegung für eine demokratische Slowakei (HZDS) das Land in wirtschaftliches Chaos und in die internationale Isolation führte. Im Herbst 1998 nahm ihm Rudolf Schuster den Präsidentensessel und eine von Mikulás Dzurinda geführte Mitte-Rechts-Koalition die Macht ab.

Seit den Wahlen vom September 2002 leitet Dzurinda eine Koalition aus seinen Christdemokraten (SDKU), der ebenfalls christdemokratischen KDH, der ethnisch-ungarischen SMK und der rechtsliberalen Allianz für neue Bürger (ANO). Mitte Mai 2003 konnte die Regierung triumphieren: 92,46 Prozent der Wähler entschieden sich in einem Referendum für den Beitritt der Slowakei zur EU.

Der gut trainierte Marathonläufer Dzurinda, der den New-York-Marathon am 5. November 2001 in respektablen drei Stunden, 42 Minuten und 30 Sekunden lief, hat das politische Ziel schon vor Augen. Im Mai 2004 wird sein Land EU-Mitglied, kurz darauf auch in der Nato sein.

So erfolgreich hat die Regierung Dzurindas ökonomische, administrative, fiskalische und juristische Reformen durchführt, die Korruption bekämpft, für budgetäre Disziplin gesorgt und die Privatisierung vorangetrieben, dass nach einem OECD-Urteil ihre Wirtschaft besser dasteht als die tschechische, polnische und ungarische. Auch die Prüfungsberichte der Brüsseler Eurokraten setzen dieser guten Note höchstens ein klitzekleines Minuszeichen hinzu: »Bedeutsame Fortschritte« gebe es hier und da und dort, aber noch größere Aufgaben seien zu erledigen. Was in der Slowakei eh jedermann weiß: Prioritätenprogramme der Regierung und Analysen wissenschaftlicher Institute lassen nun wirklich keinen Zweifel, was die Erträge und Risiken eines EU-Beitritts sind.

Wobei die Slowaken noch als Risiko deklarieren, was eigentlich unvermeidlich ist: der Konkurrenzdruck auf slowakische Produzenten, der Anstieg der Preise für Zigaretten, die Beschränkung der Budgetausgaben, um die Defizitgrenze von drei Prozent nicht zu überschreiten, Delegierung von Außenhandelskompetenzen an die EU-Kommission etc. Wer so etwas als Risiko auffasst, beweist letztlich nur, dass er die Marschrichtung und die eigenen Mühen mitzumarschieren kennt.

Eines aber wird sich nicht mehr wiederholen: Petr Osusky, ein slowakischer Hochschulrektor und Briefmarkensammler, bekam unlängst für seine Kollektion in Südkorea eine Goldmedaille verliehen. Aber auf dem Rückweg verschwand die Sammlung spurlos und tauchte erst nach vier Monaten wieder auf. In Slowenien.