Von Göteborg nach Genua

In Berlin wollen GlobalisierungskritikerInnen gegen den Ausbau der europäischen Strafverfolgung protestieren. von arne norden, berlin

Spätestens seit den Ereignissen rund um den EU-Gipfel in Göteborg im Juni 2001 ist die globalisierungskritische Bewegung mit einer neuen Dimension staatlicher Repression konfrontiert. Die schwedischen Staatsanwälte betrieben einen immensen Ermittlungsaufwand, um die Proteste strafrechtlich zu bewältigen. Die Betroffenen dieser Verfahren sprechen von »zwei Verfahrenswellen«.

Die erste begann unmittelbar im Anschluss an die Göteborger Gipfeltage. In Schweden inhaftierte DemonstrantInnen wurden dort in über 40 Fällen zu Haftstrafen verurteilt, darunter auch mehrere Deutsche. Die zweite Verfahrenswelle begann, als im Frühjahr 2002 die schwedische Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungsergebnisse an die deutschen Behörden übergab.

Die dortigen Strafverfolger ermittelten anhand der gelieferten Daten weiter, ließen Wohnungen durchsuchen, biometrische Daten erfassen und nahmen einen Betroffenen für über einen Monat in Untersuchungshaft. Sie ermittelten auch gegen Personen, die in den schwedischen Akten gar nicht auftauchten. Die Grundlage für die Fortsetzung der Strafverfolgung in Deutschland ist das europäische Übereinkommen zur Amtshilfe in Strafsachen.

Von diesen Ermittlungen sind in Deutschland mindestens elf Personen betroffen, drei Verfahren sind bereits abgeschlossen. Gegen einen Berliner und einen Bremer wurden in diesem Frühjahr Bewährungsstrafen wegen schweren Landfriedensbruchs verhängt. Ein weiterer Berliner, der zur Tatzeit erst 17 Jahre alt war, wurde wegen Sachbeschädigung zu einem Erste-Hilfe-Kurs verurteilt.

Die Rechtmäßigkeit dieser Prozesse ist umstritten. So sind in den bisherigen Verfahren mehrere schwedische Polizeibeamte geladen, die in ihren Aussagen lediglich die allgemeine Situation in Göteborg schilderten. Bei einer Verurteilung müssen die Kosten für deren Reise und Unterkunft vom Angeklagten getragen werden. Die Rede ist von einer Summe bis 20 000 Euro.

Der Vorsitzende des Republikanischen Anwaltsvereins, Wolfgang Kaleck, spricht von einer »Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten«. Er kritisiert auch die Qualität des Beweismaterials. Die deutschen Behörden hätten es unterlassen, das übergebene Material auf Widersprüche und Fehler zu prüfen. Kaleck möchte die Rechtmäßigkeit der Verfahren überprüfen lassen, »weil die deutschen Behörden ihrem gesetzlichen Auftrag, Be- und Entlastendes gleichermaßen zu sammeln«, nicht nachgekommen seien.

Besonders die zahlreichen Videoaufnahmen sind fragwürdig. Sie dienen in vielen Fällen lediglich der Stimmungsmache und stehen spätestens seit den bekannt gewordenen Fälschungen am Polizeivideo von den Göteborger Schüssen unter Manipulationsverdacht.

In Fragen der Datenübermittlung sei es laut Kaleck außerdem zu schwer wiegenden Fehlern gekommen, die zu unberechtigten Abschiebungen aus Schweden geführt hätten. An den deutschen Göteborg-Prozessen sei eine neue europäische Repressionspraxis zu beobachten, die den »Spielraum oppositioneller Kräfte im europäischen Maßstab immer mehr beschränkt«.

Die Ermittlungen gegen die Polizeischützen in Schweden verliefen bisher ergebnislos. Die Videomanipulationen sind noch immer nicht gerichtlich behandelt worden. Auch das in vielen Aussagen dokumentierte Eingeständnis schwedischer Polizisten, selbst Steine auf DemonstrantInnen geworfen zu haben, ist bislang folgenlos geblieben.

Eine regelrechte Prozesslawine droht auch nach Abschluss der italienischen Ermittlungen zu den Krawallen in Genua. Insgesamt 400 DemonstrantInnen wurden während des Gipfels verhaftet, davon müssen mindestens 300 mit Verfahren rechnen. Die meisten dürften mit dem Vorwurf der »Bildung einer internationalen kriminellen Vereinigung Black Bloc mit dem Ziel, Verwüstungen anzurichten« konfrontiert sein. Dazu werden ihnen Plünderungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt sowie Waffenbesitz vorgeworfen.

Für die knapp 100 Betroffenen, die in der Diaz-Schule verhaftet und teilweise schwer misshandelt wurden, ist der Vorwurf des Waffenbesitzes inzwischen vom Tisch, vermutlich wird auch die Anklage, sie seien Angehörige des »Black Bloc«, fallengelassen. Alle übrigen müssen sich auf lange Verfahren sowie auf Staatsanwälte einstellen, die Haftstrafen von acht bis 15 Jahren etwa für Plünderungen und Verwüstungen fordern werden.

Allerdings sind in Italien auch einige Verfahren gegen Polizei- und Carabinieri-Offiziere im Gange, die an Misshandlungen beteiligt gewesen sein oder Falschaussagen gemacht haben sollen. Im Falle der Erschießung Carlo Guilianis wurde das Verfahren mit der Begründung eingestellt, der Polizist habe in Notwehr gehandelt und »berechtigt« von seiner Waffe Gebrauch gemacht.

Auch wenn die Verfahren nach Göteborg neue Höhepunkte der europäischen Repression gegen linke Bewegungen darstellen, sind sie doch nur Etappen auf dem Weg zur Harmonisierung der europäischen Strafverfolgung. »Permanent werden neue repressive Eingriffe entwickelt und fortgeschrieben, teilweise unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus oder auch ausdrücklich gegen soziale Bewegungen und GipfelgegnerInnen gerichtet, um den Widerstand zu behindern oder sogar ganz auszuschalten«, erläutert die Berliner Rechtsanwältin Silke Studzinsky, die Beteiligte an den Verfahren verteidigt.

Dazu gehört etwa die Anpassung des deutschen Paragraphen 129a StGB an den europäischen Beschluss zur Anti-Terrorismus-Gesetzgebung. In einem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung im April dieses Jahres in den Bundestag einbrachte, werden eine Reihe von neuen Vergehen genannt, wie etwa die »Absicht, die Bevölkerung auf schwer wiegende Weise einzuschüchtern« oder »eine Behörde oder eine internationale Organisation rechtswidrig zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu zwingen«.

Diese Formulierungen sind nach der Meinung Studzinskys »relativ offene juristische Begriffe« und daher stark auslegbar. Der neue Pragraph 129a ermögliche »die Kriminalisierung sozialer Bewegungen«. Bis Jahresende soll er im Bundestag verabschiedet werden.

Zudem wird am 1. Januar 2004 der europäische Haftbefehl eingeführt. Dann können in der EU Beschuldigte künftig ausgeliefert werden, ohne dass der Vorwurf gegen sie auch nur geprüft werden muss. Theoretisch kann dann in Italien eine Verurteilung künftig in Abwesenheit des Angeklagten stattfinden, die Strafe wird anschließend in Deutschland ohne Prüfung vollstreckt.

Demonstration »Von Göteborg nach Genua – gegen die Kriminalisierung emanzipatorischer Bewegungen«, Berlin, 20. Juli 2003 (Todestag von Carlo Guiliani), 14 Uhr, von der schwedischen Botschaft (Rauchstr. 1.) zur italienischen.