Wunderbar nuklear

Die Kontamination der österreichischen Seele mit Ressentiments gegen Temelin hat merklich abgenommen. Ein neues Volksbegehren für ein atomkraftfreies Europa hatte nur bescheidenen Erfolg. von martin schwarz, wien

Milan Nebesar, der Direktor des Atomkraftwerkes von Temelin, ist ein Mann, der es versteht, die Massen zu beruhigen. »OK, das Kraftwerk ist sowjetischen Stils, aber es ist ganz bestimmt nicht Tschernobyl«, so erklärt er das AKW für unbedenklich. Dass Temelin nicht Tschernobyl ist, könnte allerdings für die meisten Österreicher nicht wirklich die ultimative Unbedenklichkeitserklärung sein. Nur 60 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt, sorgt der Atommeiler, einst mit sowjetischer Technologie gebaut und mit einem amerikanischen Upgrade versehen, für ständigen Zank zwischen den beiden Nachbarstaaten. 90 Prozent der Österreicher, so will die Umweltschutzbewegung Greenpeace Anfang Juni herausgefunden haben, seien gegen Atomkraft und daher natürlich auch gegen Temelin.

Doch irgendwie ist der große Anti-Atom-Hype zwischen Wien und Bregenz vorüber. Ein im Juni gestartetes Volksbegehren für ein »atomfreies Europa« unterschrieben nur etwa 130 000 Menschen – gerade genug, um das österreichische Parlament mit der leidigen Frage zu beschäftigen. Das ist seltsam, denn noch vor etwas mehr als einem Jahr, im Januar 2002, startete die rechtspopulistische Freiheitliche Partei (FPÖ) in Österreich ein Volksbegehren, das dezidiert gegen die Inbetriebnahme Temelins gerichtet war, und konnte immerhin 900 000 Unterschriften präsentieren. Der EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen riskierte daraufhin eine dicke Lippe, als er analysierte, dass das Ergebnis des Volksbegehrens vom Juni bestätige, dass die Österreicher den Erweiterungsprozess der EU nicht aufhalten wollen.

Doch genau das Gegenteil ist richtig. Das Volksbegehren der FPÖ sah eindeutig vor, den EU-Beitritt Tschechiens zu verhindern, wenn die Prager Regierung ihr technologisches Kleinod tatsächlich in Betrieb nehmen sollte. Also bedienten sich die Organisatoren ganz klassischer Ressentiments vieler Österreicher gegen eine Ost-Erweiterung der EU. Um Temelin ging es nur vordergründig.

Viel entscheidender für den Zustrom der Massen zu den Eintragungslokalen war, dass die meisten Österreicher meinen, tschechische Arbeitskräfte würden nach dem EU-Beitritt den österreichischen Arbeitsmarkt »überschwemmen«. Verärgert ist man auch darüber, dass sich die tschechische Regierung nicht dazu bringen lässt, sich für unschöne Begleiterscheinungen bei der Aussiedlung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg zu entschuldigen. Anders ist das vergleichbar matte Interesse an einem atomkraftfreien Europa ein Jahr später nicht zu erklären.

Schließlich ging es diesmal nicht gegen einen »Erbfeind der Österreicher« – das Verhältnis der beiden Staaten ist nicht zuletzt wegen der vielfachen verwandtschaftlichen Bindungen von Hassliebe geprägt –, sondern gegen das für den durchschnittlichen Atomkraftgegner unfassbare Gespenst der europäischen Atomindustrie.

Dabei sind die Österreicher Atomkraftgegner der ersten Stunde. Schon seit mehr als 20 Jahren kämpft das Land verbissen gegen nukleare Ambitionen in seiner unmittelbarer Nachbarschaft und auch zuhause. Das Kernkraftwerk Zwentendorf wurde in den siebziger Jahren zwar von dem damaligen sozialistischen Bundeskanzler Bruno Kreisky in Auftrag gegeben, in Betrieb ging es aber wegen des erbitterten Widerstandes der Atomkraftgegner nie. Heute steht der Kasten völlig ungenutzt an der Donau und sämtliche Umwidmungsversuche scheiterten: sowohl die Mutation in ein Dampfkraftwerk als auch der besonders bizarre Plan, aus Zwentendorf ein Horror-Disneyland der Nuklearindustrie zu machen. Ginge es nach dem Willen der Österreicher, sollte Temelin zu einem zweiten Zwentendorf werden.

So weit wird es aber nicht kommen. Trotz des Erfolges des Volksbegehrens, das sich auch gegen Tschechien richtete, weigerte sich der europapolitisch ohnehin angeschlagene Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, seinem freiheitlichen Koalitionspartner den Gefallen zu tun und ein Junktim zwischen Temelin und dem EU-Beitritt Tschechiens herzustellen. Deshalb wird das AKW im nächsten Jahr auch in Betrieb gehen und Tschechien der Europäischen Union beitreten.

Im April begann die letzte notwendige Phase des Testbetriebes, der 18 Monate dauern wird, bevor Temelin Ende 2004 ans Netz geht. Dann wird das Kraftwerk, zumindest nach tschechischen Angaben, rund 30 Prozent der Stromversorgung des Landes garantieren – und das ist in Tschechien auch bitter nötig. So traurig es für die österreichischen Atomkraftgegner auch sein mag, so wahr ist es, dass Prag keine echten energiepolitischen Alternativen zur Inbetriebnahme des Atommeilers hat.

Im Gegensatz zur Alpenrepublik mit ihren vielen Flüssen und Stauseen verfügt Tschechien kaum über Wasserkraftwerke. Und Temelin etwa zu einem Gaskraftwerk umzugestalten, ist finanziell nicht tragbar. Schließlich soll das AKW auch dringend benötigtes Bargeld in die Prager Staatskassen spülen. Der Staat versuchte jahrelang vergeblich, seinen Anteil an dem tschechischen Energieriesen CEZ, von dem auch Temelin betrieben wird, abzustoßen. Rund 5,5 Milliarden Euro soll ein Anteil von 68 Prozent kosten, was bisherigen Interessenten allerdings zu teuer war: »Das größte Problem war der Preis – das hat den Deal bisher verhindert«, sagt Chris Johnson, Redakteur des Prague Business Journal. Klar ist auch, dass das AKW eines der wichtigsten Verkaufsargumente des Staates ist, also nur ein funktionierendes Atomkraftwerk überhaupt dafür sorgen könnte, den Staatsanteil loszuwerden.

Die Anti-Atomkraftlobby im benachbarten Österreich jedenfalls will trotz der Inbetriebnahme Temelins und der mittleren Pleite des letzten Volksbegehrens, das nur wenig mehr als die erforderlichen 100 000 Unterschriften sammelte, nicht aufgeben. In den europäischen Gremien sollen die österreichischen Vertreter künftig per Verfassungsgesetz gezwungen werden, gegen Subventionen und Förderungen der europäischen Atomindustrie durch die EU zu votieren. Denn bisher – und das verdrängen die mit ihrer Regierung in ihrem Anti-Atomkraftfieber vermeintlich vereinten Österreicher gerne – haben Regierungsvertreter aus Wien in den entsprechenden EU-Gremien auch durch ihr Abnicken rund 100 Millionen Euro an Zuschüssen für Europas Atomindustrie lockergemacht.