Wer aß die Bonbons?

Irakische Botschaft

Wer politisch etwas auf sich hält, den Nationalstaat als etwas Konstruiertes und politische Inhalte als prinzipiell veränderbar begreift, der sollte unbedingt der alten irakischen Botschaft einen Besuch abstatten.

Im einst schicken Wohnviertel des Berliner Ostens, im Stadtteil Pankow, befindet sich in der Tschaikowskistraße 51 neben der »Arbeitsgemeinschaft für Industrie und Forschung« das zweistöckige Gebäude im Stil der Plattenarchitektur der siebziger Jahre. Trotz Brandschäden hat es noch einiges an kuriosem Inventar zu bieten.

Ist man erst einmal durch das Dickicht gekrochen, dessen Untergrund mit arabischen Schriftstücken übersät ist, und hat den recht schmalen Balkonsims erklommen, gelangt man durch eine der geöffneten Hintertüren überraschend einfach in das Gebäude. Hier gewinnt der Besucher schnell neue Erkenntnisse.

Erstens war Saddam Hussein mal Kommunist oder tat zumindest so. Das beweisen mehrere marxistisch-leninistische Bücher und Hefte sowie ein Kongressbericht der Arabisch-Sozialistischen Baath-Partei von 1974. Zweitens war der Irak ein Freund des bewaffneten palästinensischen Befreiungskampfes. Wie sonst ist das kaum beschädigte, überlebensgroße Foto eines Mannes zu verstehen, vermummt mit einem Palituch, der uns eine undefinierbare Waffe drohend entgegenhält?

Rätselhaft bleiben dagegen ein Safe der Marke Bode in der Küche – das Knacken des vierstelligen Zahlenschlosses gelang in der kurzen Zeit nicht –, die unzähligen Bonbontüten der Marke Werthers Echte und ebenso viele einzelne Halbschuhe.

Vor allem aber stellt sich die Frage, warum die Botschaft so plötzlich verlassen wurde. Die Schreibtische sind unaufgeräumt und vorm Zimmer des Pförtners hängen noch die Sprechzeiten der Konsularabteilung: »Montag bis Freitag 8.30 – 13.00 Uhr«. Das jüngste Schriftstück in der Botschaft ist eine Sonderausgabe von Die Wirtschaft zur Leipziger Herbstmesse 1990 mit dem Titel: »Leipzig platzt aus allen Nähten.«

War es dem Zusammenbruch der DDR geschuldet oder veranlasste der zweite Golfkrieg im Jahr 1991 die Iraker dazu, ins noch ruhigere Zehlendorf umzuziehen? Und wer steckte das Gebäude im Juni dieses Jahres in Brand? Eine Recherche im westlichen Teil der Hauptstadt bleibt erfolglos. Seit gut einer Woche gibt es auch in der neuen alten Botschaft nicht einmal mehr einen Verwalter, das übrige Personal flog kurz nach dem Kriegsende aus. Hereingelassen wurde schon länger niemand, das Telefon ist auf »besetzt« geschaltet.

Vor gut einem Jahr geriet die Jugendstilvilla in der Riemeisterstraße 20 in die Schlagzeilen, als fünf Iraker die Botschaft besetzten und drei Mitarbeiter als Geiseln nahmen, um auf die Lage in ihrem Land aufmerksam zu machen. Heute sind die Vorhänge an den Fenstern des Gebäudes zugezogen, eine verwaiste irakische Flagge hängt am Toreingang. Noch ist die Botschaft von Absperrgittern umgeben und wird von der deutschen Polizei Tag und Nacht bewacht. Sogar die Bushaltestelle vor der Botschaft wurde verlegt. Bald sollen hier neue Verwalter einziehen, erzählt ein redseliger Polizist. Wer das sein wird, weiß er auch nicht.

jana schulte