Der Ziegeleisee

Sight Seeing III

Schon auf dem Weg zum Ziegeleisee im Bezirk Reinickendorf kommen dem künftigen Badegast die ersten Zweifel, ob dieser Ausflug eine gute Idee war. Eine Horde Jugendlicher mit gegelten Haaren und neonfarbenen Turnschuhen, die sie trotz oder gerade wegen 35 Grad Hitze tragen, steigen aus dem Bus der Linie 222. Zusammen mit dicken, rauchenden 13jährigen biegen sie genau in die Straße, die zum See führt.

Der Ziegeleisee entpuppt sich als Teich, die Badestelle als »Strandbad Lübars«, das von außen einem Hochsicherheitstrakt ähnelt. Der hohe Zaun schließt oben zum Teil mit Stacheldraht ab. Drinnen hängen an jeder nur möglichen Stelle Gebots- und Verbotsschilder. Ein Ticket kostet vier Euro, ermäßigt zwei fünfzig.

Ein Geschenk der USA aus dem Jahr 1950 ist das Freibad, erfährt man auf einem Gedenkstein. Heute sitzen dort Mädchen, die Fragebögen aus Teeniemagazinen beantworten, Junggesellen mit Bierdosen, Rentner in mitgebrachten Campingstühlen und gelegentlich auch türkische oder afrikanische Familien.

Der heiße Sommer macht dem Bad zu schaffen. Die Wiese ist verdorrt, und Algen breiten sich im Wasser aus. Wer genug hat, dem sei der angrenzende Hermsdorfer See zum Spazierengehen und Angeln empfohlen.

Waterworld: Der See darf nur zur Hälfte beschwommen werden. Wer trotzdem versuchen sollte, das andere Ufer zu erkunden, dem drohen Sanktionen. Es gibt einen überfüllten Nichtschwimmerbereich, ausreichend Platz für Langstreckenschwimmer, einen Sprungturm und drei Wasserrutschen.

Sonnenschutzfaktor: Den meisten BesucherInnen droht kein Sonnenbrand, denn sie unterziehen sich sowieso zwölf Monate im Jahr einer künstlichen Bestrahlung. Für den Rest gibt es hohe Bäume, Strandkörbe oder einen Platz beim Nachbarn unterm Sonnenschirm.

Körperwelten: Der FKK-Bereich ist klar durch eine Wand von Strohmatten abgegrenzt. Niemand weiß, was auf der anderen Seite passiert. Die Nacktbader sind auf jeden Fall am schöneren Ufer.

Fashion: Die wasserstoffblondierte Mutti trägt den Bikini mit Tigermuster. Der dazugehörige Vati den unvorteilhaften Badeslip. Für Jungen und Männer ist das Goldkettchen ein Muss.

Sanitäre Einrichtungen: An jeder Tür ist ein Schild mit der Aufschrift angebracht: »Macht mit! Haltet die Toilette (die Dusche) sauber.«

Kulinarisches: Die Langnese-Flagge weht an allen Strandkörben und Imbissbuden – so viel dazu. Außerdem trotzen die Betreiber dieses Jahr den preußischen Buletten und verkaufen stattdessen »bayerische Schmankerl«.

Geschlechterverhältnis: Hier baden männliche und weibliche Gleichgesinnte im Alter von einem bis 70 Jahren.

Köter: Nur der Bademeister ist bissig.

Nazifaktor: Der eher dörflich anmutende Stadtteil scheint kein Krisenherd zu sein.

Spannerfaktor: Wie gesagt, die wenigen Nackten baden und sonnen abgeschottet. Und Strings oder oben ohne sind die Ausnahme.

Special Facts: Mario der Masseur und sein »Verwöhnteam« versprechen für 50 Cent die Minute ein gestärktes Selbstwertgefühl und gehen natürlich auch auf individuelle Bedürfnisse ein.

claudia seidel