Arme ab

Altersarmut und private Verschuldung. Sozialreform in Großbritannien, Teil III. von matthias becker, london

Schluss mit der Altersarmut!« So lautete die Parole der Rentner, die während einer in Devon von Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden organisierten Demonstration im Februar lautstark gegen eine Erhöhung der Gemeindesteuer und für eine deutliche Rentenerhöhung protestierten. Die Polizei war verwirrt. Auf einer Straßenkreuzung blockierten die Senioren den Verkehr. Danach versuchten sie, das Rathaus zu besetzen, woran sie aber gehindert werden konnten.

Joy Moss, eine Sprecherin der gewerkschaftsnahen Greater London Pensioners Association, äußert sich bitter über New Labour: »Diese Regierung hat uns betrogen!« Sie fordert, die Renten wieder an die Reallöhne zu binden. Das will auch die Kampagne »Helft den Senioren«, eine gemeinsame Initiative englischer Wohlfahrtsverbände. Für ihren Sprecher Richard Wilson ist es an der Zeit, endlich etwas gegen die Altersarmut zu unternehmen: »Wir schätzen, dass jeder vierte englische Rentner unter der Armutsgrenze lebt.« In Südlondon beispielsweise ist es kein ungewöhnlicher Anblick, alte Frauen und Männer zu sehen, die auf dem Heimweg vom Supermarkt noch schnell den Mülleimer durchsuchen. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung sind das extreme Ausnahmen; die Mehrheit ist heute finanziell besser gestellt als vor zwanzig Jahren. Aber wie bei den Jungen steigt auch bei den Alten die relative Armut, die Kluft zwischen Wohlhabenden und Verarmten wächst.

Die Altersarmut wird verschärft durch die Krise des britischen Rentensystems. In Großbritannien existieren Betriebsrenten, staatliche Renten und private Altersvorsorge nebeneinander, aber die heute Dreißig- bis Vierzigjährigen sparen nicht annähernd genug, um im Alter versorgt zu sein. Private Anleger haben wegen der fallenden Aktienkurse deutliche Einbußen hinnehmen müssen. Aber noch fataler ist die Entwicklung der britischen Betriebsrentenkassen, die hemmungslos ihre Rücklagen in Aktien investiert haben. Nach vorsichtigen Schätzungen sind sie heute nur noch die Hälfte wert. Führende Unternehmen wie beispielsweise Rolls Royce oder British Telecom werden ihre Betriebsrenten nicht auszahlen können, ohne den Bankrott zu riskieren.

Ungefähr neun Millionen Arbeiter und Angestellte sind auf Betriebsrenten angewiesen. Die Aussicht, sich im Alter einschränken zu müssen, beginnt für Unruhe zu sorgen. Im Juni demonstrierten Stahlarbeiter in London, weil ihre Renten durch den Konkurs ihrer Firma wegfielen und erzwangen eine Ausgleichszahlung. Andere Belegschaften folgten ihrem Beispiel. Die meisten der Arbeiter und Angestellten mit einem Jahresverdienst unter 20 000 Pfund werden auf die Staatsrente angewiesen sein, derzeit ganze 77,45 Pfund in der Woche, das entspricht etwa 110 Euro.

Der Minister für Arbeit und Renten, Andrew Smith, hat im vergangenen Monat angekündigt, dass nach seinen Vorstellungen das Rentenalter angehoben werden muss. Die Rede ist von fünf Jahren, Männer müssten also bis 70 und Frauen bis 65 arbeiten. Die Gewerkschaften lehnen das ab, und große Teile der Bevölkerung zeigen sich empört.

Eng verbunden mit der Krise der Renten ist die des Immobilienmarkts. Durch niedrige Zinssätze für Bausparverträge förderten die Konservativen den Immobilienbesitz, entsprechend ihrem Schlagwort von der »Demokratie der Immobilienbesitzer«. Keine Maßnahme der Tories war so populär wie die Gesetze, die es Mietern ermöglichten, ihre Sozialwohnung zu kaufen. Mit einem Londoner Einfamilienhaus und sogar mit einer Sozialwohnung ließ sich in den neunziger Jahren ein Vermögen verdienen.

Nun sind kaum noch Sozialwohnungen zu haben, die Mieten sind die höchsten Europas, aber viele zählen sich als Hausbesitzer stolz zur Mittelklasse. Nicht ganz zu Recht. Eine aktuelle Studie der unabhängigen Joseph Rowntree Foundation hat ermittelt, dass jeder zweite Arme tatsächlich Hausbesitzer ist. Zwar besitzen 70 Prozent aller Briten ein Haus, aber ein großer Teil davon gehört ihren nur nominell.

Die Hausbesitzer bilden die eigentliche soziale Basis der britischen Europafeindlichkeit, denn, so fürchten sie, nach einem Beitritt zur Währungsunion werden die Immobilienpreise sinken. Mittlerweile sprechen die Börsianer öffentlich von einer nötigen Abwertung um mindestens zwanzig Prozent, die fatale Auswirkungen haben könnte.

Aber nicht nur die Rentenkrise und die Immobilienblase machen den Briten Sorgen. Die Überschuldung der privaten Haushalte ist noch beängstigender. Der durchschnittliche Haushalt hat Schulden in Höhe von 130 Prozent seines Jahreseinkommens, und knapp ein Viertel der britischen Haushalte ist überschuldet. Dass der Zinssatz im Juli gesenkt wurde, hat noch einmal das Wachstum angekurbelt, aber nun ist für die Bank of England kein Spielraum mehr vorhanden. Ciaran Barr, ein Ökonom der Deutschen Bank, urteilte kürzlich vernichtend über die Strategie der Kollegen: »Um mit der Blase fertig zu werden, hat die Bank of England in Wirklichkeit eine neue geschaffen.«

Der Zinssatz in Großbritannien ist nun so niedrig wie seit fast 50 Jahren nicht mehr, aber Finanzexperten beginnen sich zu fragen, was die unvorstellbare Masse an Krediten eigentlich noch wert ist. Im vergangenen Jahr waren es 40 Milliarden Pfund. Insgesamt sind die Schulden durch Kreditkarten, Überziehungskredite und Hypotheken in diesem Jahr noch einmal um 14 Prozent gestiegen. Wie sollen solche Summen angesichts großer Steuer- und geringer Lohnerhöhungen jemals zurückgezahlt werden?

Kein Wunder, dass die Kommentatoren der bürgerlichen Blätter wieder die Moral entdecken, und die britische »Kreditkultur« plötzlich unanständig finden. Noch lassen sich die Engländer durch Geldmangel nicht vom Konsum abhalten. Banken werben mit dem Slogan: »Warte nicht, hol es dir jetzt!« Und viele Handelsketten haben eigene Kreditsysteme.

Großbritannien hat die längsten Arbeitszeiten, die meisten tödlichen Arbeitsunfälle, die wenigsten Arbeitslosen in Europa. In einer Gesellschaft, die derart geprägt ist von Arbeitsstress und Konkurrenzdruck, zum Konsumverzicht aufzurufen, hat wenig Aussicht auf Erfolg. Kein Urlaub, keine Kreditkarte, kein wildes Wochenende und kein Videofilm am Montag?

Ein schönes englisches Sprichwort sagt: »Wenn ich dir zehn Pfund schulde, habe ich ein Problem. Wenn ich dir tausend Pfund schulde, hast du das Problem.« Wessen Problem die Schulden der Briten wirklich sind, wird sich herausstellen, wenn die britische Wirtschaft zur harten Landung ansetzt.