Nationale Reflexe

Nach den Schüssen auf serbische Kinder. von boris kanzleiter, belgrad

Jedesmal, wenn im Kosovo serbische Bürger von albanischen Nationalisten angegriffen werden, wiederholt sich in Belgrad ein mittlerweile eingespieltes Ritual: Die Zeitungen berichten auf den Titelseiten über Details der brutalen Überfälle; am unteren Rand der Fernsehbildschirme läuft die Eilmeldung mindestens zwei Tage durch das Bild; Politiker aller Parteien fordern die UN-Mission im Kosovo samt Kfor-Truppe auf, endlich die noch verbliebenen Serben effektiv zu schützen. Nach spätestens einer Woche ist die Aufregung dann verflogen und es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich der nächste Brandanschlag, Handgranatenüberfall oder das nächste Heckenschützenattentat ereignet.

Aber die Schüsse auf die im Bach planschenden Teenager von Gorazdevac haben das Ritual durchbrochen. Dass Scharfschützen aus dem Hinterhalt mitten am Tag versuchen, eine ganze serbische Schulklasse zu liquidieren, hat die Nerven in Belgrad blank gelegt. Auch ansonsten besonnene Menschen haben derzeit nur die gebräuchliche und verächtliche Wendung »Fick die Mutter« auf den Lippen, wenn es um »die Albaner« geht. Der stellvertretende Ministerpräsident und Kosovo-Beauftragte der Belgrader Regierung, Nebosja Covic, meint: »Was in Gorazdevac passierte, ist die brutalste Form des Faschismus.«

Tatsächlich ist die Entwicklung dramatisch. Seit die »internationale Gemeinschaft« in Form von UN-Mission und Kfor-Truppe im Juni 1999 in den Kosovo einrückte, sind 250 000 Serben und Roma von albanischen Nationalisten vertrieben worden. Etwa tausend Nicht-Albaner wurden umgebracht. Die verbliebenen »ethnischen Minderheiten« in der albanischen »Kosova Republik« im Wartestand, fristen ihr Leben – wie die Einwohner von Gorazdevac – in von Feindseligkeit umgebenen Enklaven.

Nun ist es kein Geheimnis, dass der Konflikt im Kosovo eine komplexe Geschichte hat, in der unter der einen wie unter der anderen Nationalfahne Verbrechen begangen wurden. Für die nationalpopulistische Regierung des Slobodan Milosevic diente die Eskalation der Gewalt gleich zweimal zur Herstellung politischer Homogenität nach innen. Am Ende der achtziger Jahre bei seinem Aufstieg zur Macht und nach 1995 zur Ablenkung von den verlorenen Kriegen in Bosnien und Kroatien.

Heute dagegen können die neuen Machthaber in Belgrad kein politisches Kapital aus den Angriffen albanischer Extremisten schlagen. Im Gegenteil, die pathetischen Erklärungen Covics und ähnliche Äußerungen von Premierminister Zoran Zivkovic wirken hilflos. Jeder weiß, dass die amtierende serbische Regierung von der Gnade der in Washington, Brüssel und Berlin ansässigen »internationalen Gemeinschaft« abhängig ist, und daher deren Kosovo-Politik zwar kritisieren, aber nicht ernsthaft in Frage stellen kann.

Es sollte also niemanden wundern, wenn mit den Angriffen albanischer Extremisten in Serbien das demagogische nationalistische Lager wieder aus der Deckung kommt, in der es sich seit dem Mord an Zoran Djindjic notgedrungen verschanzt hat, und Hilfe in der Not verspricht.

Hilfreich für die extreme Rechte wäre dabei nicht zuletzt die gescheiterte Kosovo-Politik der »internationalen Gemeinschaft«, die den von den Nationalisten gepflegten Mythos von der angeblichen ewigen Konspiration gegen das »serbische Volk« trefflich bedient.