Damals im Mai

Michael K. steht vor Gericht, weil er am 1. Mai 1999 eine Adidas-Jacke getragen haben soll. Seither wird schneller festgenommen und noch härter bestraft. von martin kröger

Das Hauptbeweisstück ist verschwunden. Eine Adidas-Jacke mit den typischen weißen Streifen soll der Beschuldigte Michael K. am 1. Mai 1999 getragen haben. An dieser Jacke erkannten ihn Zivilbeamte der Polizei wieder, die ihm vorwerfen, am Abend einen Stein auf ihr Fahrzeug geworfen zu haben.

Auf den Beweissicherungsfotos, die die Beamten bei seiner Festnahme etwas später in einiger Entfernung machten, war keine solche Jacke zu erkennen. Trotzdem verurteilte das Amtsgericht den damals 19jährigen im August 2002 wegen schweren Landfriedensbruchs und Sachbeschädigung zu 15 Monaten ohne Bewährung.

Im zur Zeit am Landgericht Berlin stattfindenden Berufungsprozess waren die Aussagen der Zivilbeamten und Belastungszeugen der Anklage äußerst vage und von Gedächtnislücken geprägt. »Schemenhafte Erinnerungen«, »kann mich nicht mehr erinnern«, heißt es, und beim Betrachten der Beweisfotos, auf denen keine Jacke zu erkennen ist: »Wenn das eine Jacke ist, dann kann das diese Jacke gewesen sein.« Einer der Polizisten bringt das offensichtliche Problem auf den Punkt. »Wissen Sie«, sagt er zum vorsitzenden Richter, »wir werden jedes Jahr am 1. Mai eingesetzt, da kann ich die verschiedenen Fälle wirklich nicht mehr auseinander halten.«

Dass Michael K. auf der Grundlage solcher Aussagen verurteilt wurde, weist nach Ansicht der Solidaritätsgruppe um den Angeklagten auf die zunehmende Kriminalisierung politischer Proteste hin. »Das Urteil richtet sich nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen all diejenigen, die an diesem Widerstand teilnehmen, ihn unterstützen oder mit ihm sympathisieren«, schreibt die Gruppe in einem Flugblatt zum Auftakt des Berufungsprozesses.

Wie auch immer das Urteil des Berufungsgerichts ausfallen wird, Michael K. möchte an seinen politischen Überzeugungen festhalten: »Da ich kein Verbrecher bin, sondern politischer Aktivist, kommt es für mich nicht in Frage, mich für politische Aktivitäten, an denen ich mich beteiligt habe, zu entschuldigen oder sie sogar zu denunzieren.«

Seit den Maifeierlichkeiten 1999 sind in der Linken etliche Debatten über den Sinn, den politischen Inhalt, die Taktik, ideologische Ausrichtungen und Protestformen geführt wurden. Verändert hat sich aber vor allem eines: die Repression durch Polizei und Justiz.

Ende Juli veröffentlichte die Berliner Polizei wie in den beiden vorangegangenen Jahren ein Fahndungsplakat mit 30 Verdächtigen, die im Zusammenhang mit Straftaten vom 1. Mai gesucht werden. Auf eine Fahndung im Internet wurde zwar in diesem Jahr verzichtet, dafür sandte die Polizei 4 000 Plakate an die verschiedenen Dienststellen in der gesamten Bundesrepublik. Diese Art der Strafverfolgung ist jedoch nur ein Teil der neuen Polizeitaktik.

Bereits während der Einsätze bemüht sich die Polizei um Flexibilität: »Sie bewegen sich zwischen den Extremen des ›Konfliktmanagements‹ und der public relations einerseits und der massiven, aber gezielten Gewaltanwendung durch Spezialeinheiten andererseits«, heißt es in der Zeitschrift Informationsdienst Bürgerrechte & Polizei. Das Auftauchen so genannter Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten seit den achtziger Jahren ist eines der wichtigsten Elemente der taktischen Neuausrichtung. Diese kleinen Einsatzgruppen können gezielt gegen angebliche Straftäter vorgehen, ohne dass sich angesichts eines martialischen Polizeiaufgebots die DemonstrationsteilnehmerInnen mit den Verhafteten solidarisieren.

So wird auch seit dem 1. Mai 2002 in Berlin gehandelt. Kommt es zu Ausschreitungen, sollen gemäß dem »Konzept der ausgestreckten Hand« des Berliner Innensenats »speziell ausgebildete Festnahme- und Dokumentationstrupps für beweissichere Festnahmen sorgen«.

Benedict Ugarte-Chacon, der sich im Komitee für Grundrechte und Demokratie als Demonstrationsbeobachter engagiert, bestätigt dies: »Es lässt sich zwar feststellen, dass beabsichtigte Strategie und tatsächliches Handeln nicht immer deckungsgleich« seien, aber die Polizeistrategie habe sich »von einem rein martialischen Auftreten hin zu einem versuchten ›chirurgischen‹ Eingreifen modifiziert«. Konsequenzen hat dies vor allem für die Strafverfolgung und die anschließenden Strafverfahren.

Innerhalb kürzester Zeit werden Anklagen gegen die Beschuldigten erhoben, Ende Mai 2003 waren bereits die ersten zwei Urteile gefällt worden. »Seit diesem Jahr haben wir deutlich heftigere Strafen zu verzeichnen«, sagt der Anwalt Christoph Kliesing, der seit Jahren Beschuldigte im Zusammenhang mit dem 1. Mai vertritt. War früher bei einer Verurteilung wegen schweren Landfriedensbruchs ein Strafmaß zwischen zwölf und 15 Monaten auf Bewährung die Regel, werden seit diesem Jahr Strafen von über zwei Jahren ohne Bewährung verhängt. Früher wurde von Richtern noch strafmildernd anerkannt, dass martialisches und gewaltsames Auftreten der Polizei zu entsprechenden Reaktionen führen kann. Das gilt in Zeiten einer vorgeblichen Deeskalationstaktik nicht mehr.

Ein weiterer Grund für die höheren Strafen ist das Auftreten der speziellen Festnahmetrupps im Gerichtssaal. »Diese Beamten sind juristisch sehr viel geschulter und wissen, worauf es bei Gericht ankommt«, berichtet Kliesing. »Die Zeiten, als man es mit dem unsicheren 19jährigen Bereitschaftspolizisten zu tun hatte, sind vorbei.«

Die Beschuldigten seien dagegen nach Ansicht Kliesings zum großen Teil nicht mehr unbedingt als »szenenah« einzuordnen und wüssten häufig nicht, wie man sich bei einer Festnahme zu verhalten habe. »Früher meldeten sich über 90 Prozent der Festgenommenen bis zum dritten Tag nach dem 1. Mai beim Ermittlungsausschuss.« Heute nehme gerade noch ein Drittel die Rechtshilfeeinrichtung in Anspruch.

Zur Strafverfolgung trägt auch der Einsatz von elektronischen Überwachungsgeräten wie Digitalkameras bei. Aber die Videos müssen nicht zwangsläufig von Nachteil sein. »Im Unterschied zu vielen KollegInnen nutzte ich die Polizeivideos für die Entlastung der Beschuldigten«, berichtet Eberhard Reinecke, ein Anwalt aus Köln. Anhand der Videoaufnahmen ließen sich in vielen Fällen belastende Polizeiaussagen revidieren.

Bei ungerechtfertigen Aufnahmen, wie etwa bei der Festnahme der AktivistInnen des antirassistischen Grenzcamps in Köln, rät Reinecke allerdings dazu, einen Antrag auf Vernichtung der Aufnahmen zu stellen, »dann sind die Daten und Aufnahmen zumindest offiziell vor Gericht nicht mehr verwertbar«. Inoffiziell kann es aber durchaus sein, dass Daten weiter gespeichert werden, meint Reinecke, beispielsweise in der Datei »Gewalttäter links« und in anderen Datensätzen, »von denen nur die Polizei und der Verfassungsschutz wissen«.

Anwendung finden diese Datensätze zum Beispiel vor den Mai-Demonstrationen in Berlin. Michael K. bekommt seit 1999 regelmäßig Post von der Polizei: »Vorsorglich machen wir Sie darauf aufmerksam, dass Sie heute unter besonderer Beobachtung stehen.«

Letzter Prozesstag und Urteilsverkündung im Fall Michael K. ist am Donnerstag, dem 4. September, ab 9 Uhr im Landgericht Berlin, Alt-Tiergarten 91, Saal 806.