Neu, gerecht und unsozial

Die SPD will ihr Parteiprogramm umschreiben. Doch auch das scheint nicht zu helfen, die Illusionen vom Sozialstaat zu begraben. von felix baum

Wunderte sich eigentlich noch irgendjemand, als der Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, kürzlich den demokratischen Sozialismus für ebenso überholt erklärte wie das klassische sozialdemokratische Ideal der Verteilungsgerechtigkeit? Seine gewundenen Ausführungen zu einem »umfassenderen Begriff von Gerechtigkeit« waren offenkundig nichts anderes als die philosophische Aufpolierung des Verzichts, den die Sozialdemokratie ihrer klassischen Klientel abverlangt.

Wenn die »ganz bestimmte Rentenhöhe« für unwichtig und jede Arbeit für zumutbar erklärt wird, durchschaut jeder das Wortgeklingel von Freiheit, Selbstbestimmung und der Rückbesinnung der SPD auf ihre »Wurzeln als solidarische Emanzipationsbewegung«. Der Angriff auf die Lohnabhängigen und ihr Einkommen, den die Krise auf die Tagesordnung setzt, soll damit verharmlost werden.

Auffällig ist, wie gegenwärtig Teile der Linken ihre Illusionen über den Sozialstaat in dem Maße neu aufleben lassen, in dem die regierende Sozialdemokratie Sozialleistungen kürzt und den Arbeitsmarkt dereguliert. Exemplarisch ist die Reaktion des emeritierten Soziologieprofessors Oskar Negt auf die sozialdemokratische Litanei von der neuen Gerechtigkeit. Negt war in den siebziger Jahren ein Vordenker der Neuen Linken, in den neunziger Jahren Wahlhelfer für Gerhard Schröder.

»Zum ersten Mal in der Geschichte« seien »die Gesellschaft und die darin handelnden Menschen Anhängsel von Kapital und Markt« geworden, klagt Negt. Angesichts eines »sozialdarwinistischen Überlebenskampfs« seien soziale Gerechtigkeit und demokratischer Sozialismus »höchst aktuell«. Zweifel an der »Gerechtigkeitskompetenz« der SPD drängten sich ihm auf, da die Partei eine »zu große Nähebeziehung zu den Realitätsdefinitionen der wirtschaftlich Mächtigen« pflege.

Negts Rede von der »Realitätsdefinition« unterstellt, es liege im Belieben des Regierungspersonals, den Interessen der »wirtschaftlich Mächtigen« oder der Lohnabhängigen entgegenzukommen. So wird eine Vorstellung vom Staat fortgeschrieben, die radikale Linke in den siebziger Jahren als »Sozialstaatsillusion« kritisierten, wie etwa Christel Neusüß und Wolfgang Müller.

Damals stützte sich die Vorstellung, als mehr oder minder autonome Instanz könne der Staat, wenn er nur in den richtigen Händen sei, zugunsten der unteren Klassen sozialistische Politik treiben, auf eine scheinbar krisenfreie Ökonomie, die ausreichend Spielraum für Umverteilung lasse. Der Fokus verschob sich dabei von der Produktion auf die Verteilung, die ganz dem Staat obliege.

Nicht nur konformistische Soziologen wie Jürgen Habermas gingen damals von einer beliebigen Gestaltbarkeit der Gesellschaft durch den Staat aus. Auch die DKP und mit ihr Teile der SPD und der Gewerkschaften wollten »den Monopolen« den Staatsapparat entreißen und zum Hebel systemüberwindender Reformen machen. Staatsmonopolistischer Kapitalismus, Stamokap, hieß die Diagnose, antimonopolistische Demokratie lautete die Antwort. Auch Olaf Scholz war damals Anhänger dieser Theorie, die offenbar eine gute Begründung für den eigenen Willen zur Staatsmacht war.

Weit über das linkssozialdemokratische Spektrum hinaus wird heute der Sozialstaat just in dem Moment beschworen, in dem er sich als vollkommen auf die Erfordernisse der Ökonomie zugeschnittene Einrichtung erweist. Im Einklang mit Negt träumen viele der Initiativen, die gegen die Verwirklichung der Hartz-Konzepte mobil machen, von einem Existenzgeld, das der Staat als allgemeine Wohlfahrtsanstalt verteilen sollte.

Derweil setzt etwa Karl-Heinz Roth, früher ein Theoretiker der autonomen, sozialrevolutionären Linken, nicht nur auf die einstmals attackierten Gewerkschaften als Widerstandspotenzial, sondern verfällt zudem der gleichen Illusion wie der Linkssozialdemokrat Negt. Der derzeitige Sozialabbau sei »planvoll gewollt, weil man der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft zuliebe einen breiten Niedriglohnsektor eröffnen und damit eine breite Arbeitsarmut etablieren will«. Da Roth offenbar meint, eine Regierung könne auch nicht im Interesse der Konkurrenzfähigkeit des Kapitals handeln, geht es ihm nun um »alternative Modelle zur neuerlichen Verbreiterung und Verallgemeinerung der sozial- und wirtschaftspolitischen Voraussetzungen von Wohlstand, kultureller Vielfalt und sozialer Gleichheit« zu entwickeln.

So beschwört diese Linke angesichts des raueren Klimas am Standort Deutschland soziale Gleichheit und Gerechtigkeit und schreibt dabei den Sozialstaat zu einer reinen Erfolgsgeschichte der Arbeiterbewegung um. Doch schon die Anfänge des Sozialversicherungssystems im deutschen Kaiserreich gingen nicht auf Initiativen der Arbeiterklasse und ihrer offiziellen Organisationen zurück, sondern auf paternalistische Kapitalverbände mit viel sagenden Namen wie dem »Verein deutscher Arbeitgeber und Freunde des Arbeiterstandes«.

Dabei spielten die Furcht vor der Revolution und eine patriarchalische Ideologie, der Laisser-faire und Manchestertum ein Gräuel waren, eine Rolle. Materielle Grundlage des Sozialstaats ist aber vor allem die Notwendigkeit, Segmente der Arbeiterklasse im Falle von Krankheit, Unfällen und Arbeitslosigkeit nicht der Verelendung preiszugeben, um ein ausreichendes Heer qualifizierter Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben. Die mit dieser Intention von Bismarck und Teilen der Industriellen auf den Weg gebrachten Versicherungssysteme zerstörten selbst organisierte Hilfskassen der Arbeiter und vertieften die Spaltung in ehrenwerte Arbeitskräfte und das Lumpenproletariat.

Während die sozialdemokratische Geschichtsschreibung die Anfänge des Sozialstaats als Erfolg der Arbeiterbewegung verbucht, ist es dem stellvertretenden Vorsitzenden der Grundwertekommission der SPD, Thomas Meyer, mittlerweile ein »historisches Rätsel, warum ausgerechnet die Sozialdemokratie heute den Bismarckschen Sozialstaat in Deutschland verteidigen sollte, den sie bei seiner Entstehung bekämpft hat«. An die Stelle des Beitragsprinzips, das mit Rechtsansprüchen der Versicherten verbunden ist, will Meyer eine steuerfinanzierte Grundsicherung setzen, die durch individuelle Vorsorgemaßnahmen ergänzt werden soll.

»Welcher Gerechtigkeitsbegriff liegt der Vorstellung des Bismarckschen Modells zu Grunde, das einen einmal erreichten sozialen und Einkommensstatus und die dadurch bedingten gesellschaftlichen Ungleichheiten für alle betroffenen Gruppen ein Leben lang festschreibt?« sinniert der Parteiphilosoph. Zeitgemäße Gerechtigkeit bedeutet dagegen, alle Lohnabhängigen in gleicher Weise einer verschärften Konkurrenz auf dem deregulierten Arbeitsmarkt auszusetzen.

Meyers Berufung auf die tatsächlich zwiespältige Haltung der Sozialdemokratie zum Bismarckschen Sozialstaat ist eine Täuschung. Die Vorstellung sozialer Gerechtigkeit, die damals in der Arbeiterbewegung vorherrschte, wollte auf die Aufhebung des Lohnsystems hinaus. Nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel sollte nach dem Gothaer Programm aus dem Jahr 1875 die »gerechte Verteilung des Arbeitsertrags« auf der Tagesordnung stehen. Auch diese Perspektive blieb, wie Karl Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms anmerkte, auf dem Boden des Warentauschs, des Gleich um Gleich, das die Verschiedenheit der Individuen übergeht.

Zwar hielt Marx dies in einer ersten Phase der sozialistischen Gesellschaft für unvermeidbar, letztendlich jedoch müsse »der bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Davon ist heute keine Rede mehr.