Die Wunden bleiben offen

30 Jahre Putsch in Chile. von andrés pérez gonzalez, santiago de chile

Der 11. September 1973: Zwei Kampfflugzeuge schießen Raketen auf den Präsidentenpalast. Die Moneda, in der Salvador Allende sich verschanzt hat, brennt. General Augusto Pinochet putscht.

30 Jahre später. Drei Jugendliche, Angehörige von Opfern der Militärdiktatur, setzen ihr Leben mit einem Hungerstreik aufs Spiel – in der Absicht, gegen ein Chile, das dem Eskapismus und dem Vergessen frönt, Widerstand zu leisten. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe dauerte der Streik bereits mehr als zwei Wochen an, und ihr Gesundheitszustand ist kritisch.

Mit ihrer Entschlossenheit greifen die Jugendlichen Fahra Neghme, Pablo Villagra und Alberto Rodriguez dreißig Jahre nach dem Putsch das Schweigen und die Straflosigkeit an, die sich in der Ära nach Pinochet etabliert haben. Und sie kritisieren insbesondere den Vorschlag, den der gegenwärtige Regierungschef, der Sozialdemokrat Ricardo Lagos, vor einigen Wochen im Kongress vorstellte: die Strafen verurteilter Militärs, die mit den Gerichten kooperieren, zu reduzieren.

In Lagos’ Dokument mit dem Titel »Es gibt kein Morgen ohne gestern« werden finanzielle Entschädigungen für einige Opfer des Pinochet-Regimes vorgeschlagen. Umgerechnet etwa 30 Millionen Dollar sind für das erste Jahr nach Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes dafür eingeplant. Es soll Entschädigungen nur für die extremsten Fälle geben, nicht jedoch für die Opfer von Folter, für ungerechtfertigt oder aus politischen Gründen Inhaftierte.

Drei Jahrzehnte nach dem Tod von Salvador Allende, dem ersten demokratisch gewählten marxistischen Präsidenten, agieren heute in den gleichen Gebäuden, die Allende sich weigerte zu verlassen, andere Sozialisten. Aber sie werden die Maßnahmen gegen Demonstranten befehligen, die an diesem Jahrestag des 11. September den während des Militärputsches Getöteten eine Ehrung erweisen wollen. In Santiago wird derzeit spekuliert, dass die Kämpfe in jener Nacht in diversen Barrios der Peripherie gefährlich werden.

In diesem Land, in dem sich der Neoliberalismus konterrevolutionär durchgesetzt hat – was eine enorme Erhöhung der sozialen Kosten mit sich brachte: ab Beginn der achtziger Jahre gab es eine Arbeitslosenquote von mehr als 20 Prozent –, ist das Symbol Allende in den diversen Spezialprogrammen des Fernsehens und in Reportagen der Presse neu mit Bedeutung aufgeladen worden. Aber es bleibt auch ein harter Kern von Pinochet-Anhängern, der die Gesellschaft weiter polarisiert.

Schon spüren Rechte die Bürde der Geschichte und sehen mit einer gewissen Beunruhigung, wie das Vermächtnis Pinochets auf die Handlungen eines finsteren Diktators reduziert bleibt; immerhin hat der General a.D. in den 17 Jahren seiner Herrschaft mehr als 30 000 Repressionsopfer angehäuft. Während bei Allende »nur noch fehlt, dass sie ihn seligsprechen«, wie kürzlich der Abgeordnete Iván Moreira von der rechtsgerichteten Uniòn Demócrata Independiente (UDI) behauptete.

Der bekannte Journalist und Anwalt Hermógenes Pérez de Arce, der Pinochet sehr nahe steht, schätzt, dass erst in vielleicht 70 Jahren das historische Urteil über den obersten Chef der Militärjunta günstig ausfallen werde. »Ich beschäftige mich mit Begeisterung mit der antiken Geschichte, zum Beispiel mit der Gestalt Alexanders des Großen, 400 Jahre vor Christi Geburt. Da liest man ganz selbstverständlich, dass er diesen oder jenen Erfolg hatte. An einem Tag ärgerte er sich über irgendjemanden und schnitt ihm persönlich den Hals ab. Er bleibt trotzdem hervorragend, er wird ›der Große‹ genannt (…): Die Geschichte wird alles aufgreifen, und Pinochet wird aus ihr als historische Figur hervorgehen, die eher Gutes als Schlechtes getan hat.«

Die Parteigänger des Putsches übertreiben die Schwierigkeiten während der tausend Tage der Unidad-Popular-Regierung, wie das Parteienbündnis zur Unterstützung Allendes in dessen »Revolution von Empanada und Rotwein« genannt wurde: die allgemeine schlechte Versorgungslage, die Hyperinflation, die sozialen Spannungen und die Besetzung von Ländereien und Fabriken durch Gruppen linker Revolutionäre. Aber sie ziehen es vor, die Beteiligung der USA an der Destabilisierung des Landes nicht zu erwähnen, die beträchtliche Summen in Sabotage, Komplott und Desinformation steckten, wie es kürzlich frei gegebenen Archiven der CIA zu entnehmen ist.

Vielleicht aber bestand das einzig authentisch Revolutionäre – weswegen letztlich die neoliberale Rechte dieser Jahre ihre demokratischen Überzeugungen fallen ließ – im Auftauchen der so genannten cordones industriales, von denen eine Reihe mit der Arbeiterkontrolle Erfahrungen machte. Die anarchistische Selbstverwaltung der spanischen Revolution hieß im Chile der siebziger Jahre »poder popular« (etwa: Volksmacht).

»Die Arbeiter wissen, dass die letzte Schlacht der Unternehmer bevorsteht, und wir bereiten uns darauf vor, sie vernichtend zu schlagen, wie wir es bei dem Oktoberstreik (Versuch zur Destabilisierung der Allende-Regierung, 1972) gemacht haben, denn wir denken, dass es zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten keinen sozialen Frieden geben kann«, heißt es in dem Buch »Los cordones industriales y el socialismo de abajo« (Die cordones industriales und der Sozialismus von unten) von Miguel Silva.

Dieser Untersuchung zufolge hat Allende im Mai 1973 bemerkt, dass die Arbeiter eigene, mächtige Organisationen in Gang brachten: »Die bürgerliche Ordnung hat bei den Arbeitern an Geltungskraft verloren; diese bemühen sich, innerhalb der institutionellen Ordnung des Staates und seiner Rechtsordnung eine Organisation zu schaffen, (…) die direkte Demokratie anstrebt.«

Und gerade die Unbeweglichkeit Allendes hat dazu beigetragen, den militaristischen Sturm der folgenden Jahre auszulösen. Er war seinem Amt als Präsident der Republik verpflichtet und fuhr mit seinen fruchtlosen Aufrufen an die politische Opposition – zu jener Zeit die mächtige Christdemokratie und der Partido Nacional – fort. So besiegelte der Präsident sein tragisches Schicksal. Anfang September 1973, nur Tage vor dem Militärputsch, hängte die Kommunistische Partei große Plakate auf mit dem Spruch »Nein zum Bürgerkrieg«.

Aber sowohl der spanische Fall (1936 bis 1939) wie auch der chilenische (1970 bis 1973) zeigen, dass es Revolutionen nicht ohne Zusammenstöße gibt. Und in Chile taten die führenden Politiker der Sozialistischen Partei (PS) und andere ihnen nahe stehende Kollektive, die in diesen Jahren von der »Unvermeidlichkeit« des bewaffneten Konflikts redeten, nichts, um ihre politische und soziale Basis auch nur im Geringsten darauf vorzubereiten.

»Man kann sich nicht gleichzeitig ein sehr radikalisiertes, revolutionäres Programm und einen sehr pazifistischen und reformistischen Weg zu Eigen machen«, schriebt erst kürzlich die konservative Tageszeitung El Mercurio. »Hier existiert ein sehr tief greifender Widerspruch. Und dieser Widerspruch, einerseits ein authentischer Demokrat und Reformist zu sein und andererseits offen revolutionäre Positionen übernommen zu haben, existierte auch in Salvador Allende.«

Der chilenischen Zeitschrift Qué pasa sagte der gegenwärtige Vorsitzende des PS, Gonzalo Martner, dass sie »die Konsequenzen dieser Geschichte mit Blut bezahlten, weil diese (sozialistische) Erfahrung für uns keineswegs nur eine akademische Überlegung war … Ich wäre nicht Vorsitzender der Sozialisten, wenn die am Leben geblieben wären, die damals starben«.

Dies ist das Treffendste, was in den Reihen der regierungstreuen Linken zu hören war. Die Mittelmäßigen aus der zweiten Reihe sind jetzt an der Macht.