Geschichte ist nicht tot

Auf dem Filmfestival in Venedig dominierten historische Filme mit teilweise politischem Hintergrund und Katja Riemann bekam den Goldenen Löwen. von ulrike mattern

Cinema as a true form of art« gab es bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig zu sehen, wie es Festivaldirektor Moritz de Hadeln im Grußwort des Festivalkatalogs formulierte, nicht ohne hinzuzufügen, »there is no art without business«.

Das Festival feierte seinen sechzigsten Geburtstag. Dennoch ging auch zum Jubiläum nicht alles glatt über die Bühne. Endlose Schlangen vor den Kinos, laut protestierende Akkreditierte, die 40 Euro zahlen mussten, aber trotzdem nicht in den Saal gelangten. Das alles führte in den ersten Tagen zu tumultartigen Szenen, die teils durch die Präsenz von Carabinieri entspannt werden mussten. Zu diesem verblüffenden Bild eines renommierten Festivals, das seinem zahlenden (Fach-)Publikum mit Hilfe der Polizei den Zugang zum Kinosaal verwehrte, passte der Titel des Abschlussfilms: »Summer Madness«, die Wiederaufführung der restaurierten Version einer Komödie mit der Ende Juni verstorbenen Schauspielerin Katharine Hepburn in der Hauptrolle.

Mit einer Komödie aus dem unerschöpflichen Neurosen-Potenzial von Woody Allen (»Anything Else«) hatte das Festival eröffnet. Moritz de Hadeln, der ehemalige Berlinale-Chef, unternahm auch bei seinem zweiten Einsatz als Festivalleiter in Venedig keine Experimente. Die Mischung aus einem sich gehoben gebärdenden Mainstream, der die Stars (George Clooney & Co.) an den Lido und zum Schaulaufen auf eine Rampe vor den Festivalpalast brachte – die übrigens wie aus dem Baumarkt entwendet aussah –, und Bekannten aus dem publikumskompatiblen Bereich des Arthouse-Kinos (Takeshi Kitano & Co.), zog die Massen an. Grummelnde Kritiker des Spektakels dagegen befriedigte man in Venedig mit genau dosiertem Kunstkino sowie unzähligen Sonderreihen und Retrospektiven, wie etwa der zu den italienischen Filmproduzenten zwischen 1945 und 1975.

Betrachtet man dieses Treiben in Venedig zum ersten Mal, möchte man Peter Greenaway zustimmen, der sich eine Runderneuerung des Kinos wünscht und meinte: »Cinema is dead – long live cinema.« Am liebsten hätte der Regisseur, neben der Vorstellung des dritten Teils seiner Trilogie »The Tulse Luper Suitcases: Antwerpen«, eine ganze Konferenz zu diesem Thema abgehalten. Not amused war die Festivalleitung, die dieses Ansinnen im Jubiläumsjahr als wenig opportun betrachtete, aber die Anregung immerhin erwähnte. Die harsche Kritik Greenaways am gegenwärtigen Kino, das er als »poor narrative medium« charakterisierte, korrespondiert allerdings nicht mit dem eigenen Schaffen. Nachdem bereits auf den Festivals in Cannes und Berlin die ersten Teile seines multimedialen Film-, Internet- und DVD-Projekts aufgeführt wurden, hinterließ auch der neueste Part ein Gefühl der Ratlosigkeit. Wie animierte Gemälde aus der Kunstgalerie wirken seine Filme seit »Prospero’s Books«, wiederholen im monotonen Rhythmus am Computer generierte Spielereien mit überlappenden Bildausschnitten und stakkatoartigen Wortwiederholungen. An den sich zur Schau stellenden, Blut und Schweiß absondernden Leibern sowie den kopulierenden Paaren hat man sich inzwischen einfach satt gesehen.

Historisches Ausstattungskino bot der deutsche Festivalbeitrag »Rosenstraße« von Margarethe von Trotta. Die eigentlich spannende Geschichte über den Widerstand von als »arisch« geltenden Frauen gegen den Abtransport ihrer jüdischen Männer 1943 in Berlin wird im Rückblick aus einem Mutter-Tochter-Konflikt in der Gegenwart New Yorks erzählt. Dies zerreißt die Handlung in zwei sich nicht ineinander fügende Teile, die durch eine platte Symbolik, penetrante Musik und seltsame Dialoge geprägt sind. Die Jury fand die Leistung von Hauptdarstellerin Katja Riemann jedoch so beachtlich, dass sie ihr den den goldenen Löwen für die beste weibliche Darstellung verlieh.

Wie aufregend dagegen historisierendes Kino sein kann, zeigten drei italienische Filme (zwei im Wettbewerb, einer außer Konkurrenz), die sich wie ein politisches Triptychon lesen ließen und zu den Entdeckungen in Venedig gehörten. »Segreti di Stato« (Secret File) von Paolo Benvenuti befasst sich als sparsames Kammerspiel mit den fiktiven Untersuchungen eines Anwalts zu den realen Schüssen auf eine 1. Mai-Demonstration 1947 in Sizilien, bei der elf Menschen starben und 27 verletzt wurden. Schritt für Schritt wird die Verflechtung diverser Interessengruppen (Mafia, Regierung, Geheimdienste) bei den Ereignissen aufgedeckt. »The Dreamers« von Bernardo Bertolucci spielt in Paris im Jahre 1968. Während auf den Straßen die Studenten Barrikaden errichten, ziehen sich ein Geschwisterpaar und ein amerikanischer Student zu intimen Spielchen, die bald außer Kontrolle geraten, in eine Wohnung zurück. Bis der erste Pflasterstein durchs Fenster fliegt und die Straße die Privatsphäre erobert. Dieser kurze Sommer der sexuellen Anarchie endet dann auf den Barrikaden.

Ein weiteres Kapitel der italienischen Geschichte beleuchtete Regisseur Marco Bellocchio mit dem von Kritik und Publikum begeistert aufgenommenen, von der Jury in Venedig jedoch bloß mit einem Preis für das Drehbuch abgespeisten Film »Buongiorno, notte«. Aus der Sicht einer Terroristin der Roten Brigaden schildert der Film die Entführung und Ermordung des Christdemokraten Aldo Moro im Jahre 1978. Inspiriert von dem Buch »Il prigioniero« der Ex-Brigadistin Anna Laura Braghetti, gönnt der seit »I pugni in tasca« (1965) als Bürgerschreck geltende Bellocchio der Geschichte ein – erträumtes – Happy End. Wenn der Schauspieler Roberto Herlitzka in seiner Rolle des gekidnappten Politikers frühmorgens durch die Straßen von Rom läuft, ist das so unglaublich, als lebten Romeo und Julia glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Berlusconi, Ministerpräsident der so genannten Zweiten Republik, ließ dieser Tage wieder eine Tirade gegen die italienische Justiz los. Auf dem Lido beschäftigte man sich derweil mit den Konflikten und Träumen aus der Ersten Republik. Wenn man den Titel der noch bis zum 2. November andauernden Kunst-Biennale in Venedig, »Dreams and Conflicts. The Dictatorship of the Viewer«, auf die politischen Verhältnisse überträgt, sollte für Interpretationen also genügend Raum sein. Der Goldene Löwe ging übrigens an den russischen Film »The Return«.