Leichen im Keller

Die peruanische Wahrheitskommission hat ihren Abschlussbericht vorgelegt: 70 000 Tote in 20 Jahren Bürgerkrieg. von knut henkel

Für Perus ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori ist die Sache klar: Die Wahrheitskommission habe sich zum Terrorismus bekannt. Und wenn er wieder Präsident in Peru werden sollte, dann würde er die Streitkräfte so würdigen, wie sie es verdient hätten, verkündete der im japanischen Exil weilende Mann, der Peru zehn Jahre lange mit diktatorischen Mitteln regiert hatte, vergangene Woche auf seiner Webpage.

Für den 64jährigen, gegen den ein internationaler Haftbefehl vorliegt, der jedoch in Japan nicht vollstreckt werden kann, ist der neun Bände starke Abschlussbericht der Kommission ein Pamphlet, dessen Ergebnis bereits zuvor feststand.

Für sein Land sind die knapp 8 000 Seiten ein Stück Aufarbeitung der Vergangenheit – oder eher der Anfang davon. Denn der Präsident der Comisión de la Verdad y Reconciliación (Kommission für Wahrheit und Versöhnung), Salomón Lerner Febres, mahnte an, Gerechtigkeit walten zu lassen, als er den Bericht dem Präsidenten Alejandro Toledo übergab. Gerechtigkeit, das heißt Strafverfolgung wegen der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die die Kommission in den neun Bänden für den Zeitraum von 1980 bis 2000 dokumentiert hat.

Die Ergebnisse von 22 Monaten Forschungsarbeit, in denen 18 000 Zeugen befragt wurden, haben selbst Spezialisten überrascht. Die waren zuvor von 25 000 bis 35 000 Toten ausgegangen. Doch mit 69 280 Opfern hatte kaum jemand in Peru gerechnet. Drei Viertel der Toten entfallen auf die Departamentos Ayacucho, Junín, Huancavelica, Apurímac und San Martín. Wäre landesweit im selben Ausmaß gemordet worden wie in diesen Provinzen, dann hätte die Zahl der »Verschwundenen« und Ermordeten die Millionengrenze bei weitem überschritten, so die Kommission.

Hinter dieser Hochrechnung der Kommission steckt System. Es geht Lerner und den anderen Mitgliedern darum, eine Tragödie aufzuzeigen, die bisher in Peru kaum wahrgenommen wurde: den Tod von über 50 000 armen, ungebildeten Indios auf dem Land. Das Desinteresse für die größte Minderheit des Landes, die Indígenas, die unter dem Bürgerkrieg am meisten zu leiden hatten und immer wieder zwischen die Fronten gerieten, erscheint der Kommission als bezeichnend. Deren Tote fielen nicht weiter ins Gewicht, attestiert die Kommission der peruanischen Gesellschaft.

Die Verachtung für die acht Millionen Indígenas, rund ein Drittel der peruanischen Bevölkerung, ist tief in den Köpfen verwurzelt. Sie leben am Rande der Gesellschaft, und der »fast absolute Ausschluss« der Indios sei verantwortlich für die Differenz zwischen den Schätzungen und den Ergebnissen der Kommission. »Wenn das Land irgendetwas aus dieser Erfahrung lernen sollte, dann, dass Gewalt nicht das Problem ist«, erklärte Nelson Manrique, ein Soziologe und Historiker, der an dem Kommissionsprojekt mitarbeitete. »Die ist eher die Manifestation viel tiefer liegender Probleme – Rassismus, Diskriminierung, die Existenz von Bürgern zweiter Klasse.«

Verantwortlich für 54 Prozent der dokumentierten Morde macht die Kommission die maoistische Guerilla Leuchtender Pfad, während 1,5 Prozent der Toten auf das Konto der Revolutionären Bewegung Túpac Amaru (MRTA) gingen.

Für den Rest, also 44,5 Prozent oder knapp 31 000 Tote, macht die Kommission Militär, Polizei, Todesschwadronen und die so genannten Selbstverteidigungskomitees verantwortlich. Die Streitkräfte seien systematisch und äußerst brutal gegen alle vorgegangen, die des Terrors verdächtig gewesen seien. »In manchen Jahren hat das Militär die gleichen Methoden angewandt wie der Leuchtende Pfad«, so Lerner. Und vor allem die indigene Bevölkerung auf dem Land geriet immer wieder in den Fokus der so genannten Antiterroreinheiten. Alle, die Quechua, die Sprache der Indígenas, sprachen oder einen Poncho trugen, waren verdächtig.

Die politische Elite des Landes hat dabei die systematische Verletzung von Menschenrechten billigend in Kauf genommen beziehungsweise durch Gleichgültigkeit, Unfähigkeit und Untätigkeit ermöglicht und sich bis heute nicht zu ihrer Schuld bekannt, so die Kommission. Und im Gegensatz zu Guerillas agieren der Staat und seine Vorfeldorgane in aller Regel ungestraft.

Auch die katholische Kirche kommt in dem Bericht nicht ungeschoren davon. So wird dem ehemaligen Erzbischof von Ayacucho und heutigen Kardinal Luis Cipriano vorgeworfen, sich nicht für die Menschenrechte eingesetzt zu haben. Eine freundliche Formulierung, mit der Cipriano, Mitglied des Opus Dei und Freund Fujimoris, gut bedient ist.

Mitverantwortung für die Eskalation des Terrors tragen der Kommission zufolge alle Regierungen zwischen 1980 und 2000. Sie hätten nicht nur durch Unterlassung, sondern auch durch ihre Regierungspolitik Schuld auf sich geladen. Dies gelte nicht nur für die ehemalige Regierung von Fujimori, der den Bürgerkrieg für seinen Machterhalt instrumentalisiert habe, sondern auch für dessen Vorgänger Fernando Belaúnde und Alan García. So entfallen beispielsweise 75 Prozent der »Verschwundenen« in die Amtszeit von García, derzeit der große Gegenspieler von Präsident Alejandro Toledo im Parlament, und Belaúnde.

Mit ihrem Bericht hat die Wahrheitskommission viel Licht in das Dunkel des Terrors zwischen 1980 und 2000 gebracht. Und auch die Forderung der Kommission, die Amnestiegesetze von 1995 aufzuheben und die dokumentierten Menschenrechtsverletzungen zu verfolgen, sind Teilen des politischen Establishments und des Militärs ein Dorn im Auge.

Rückendeckung erhält die Kommission jedoch vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, der die Amnestiegesetze für null und nichtig erklärt hat. Auf Präsident Toledo kommt demnach die Aufgabe zu, die juristische Aufarbeitung der Verbrechen in die Wege zu leiten. Damit könnte er sein derzeit überaus negatives Image aufpolieren; Zuspruch erhält er Umfragen zufolge gerade von zwölf Prozent der Bevölkerung, während sein Vorgänger Fujimori auf 31 Prozent kommt. Fujimori will eigenen Aussagen zufolge 2006 erneut für die Präsidentschaft kandidieren. Die systematische und transparente Aufarbeitung der Vergangenheit könnte das nicht nur be-, sondern verhindern.