Handelsuneinig

Der WTO-Gipfel in Cancún ist gescheitert. Die Proteste waren medial erfolgreich, aber die Mobilisierung erfüllte die Erwartungen nicht. von wolf-dieter vogel, cancún

Ganz ruhig klettern mehrere Frauen auf den Metallzaun. Mit Seitenschneidern öffnen sie Stück für Stück die eiserne Barriere. Dann steigen einige Männer auf das Gerüst. Sie befestigen Seile, eines nach dem anderen, ohne die geringste Eile. Wenige Meter entfernt steht die Infernal Noise Brigade aus Seattle, die mit einer skurrilen Mischung aus Trommeln, Posaunen und fernöstlichem Gesang den Soundtrack liefert. Auf der anderen Seite beobachten etwa 100 Polizisten, wie sich die Menschen in dem Käfig zwischen den beiden Eisenzäunen bewegen.

Nach knapp zwei Stunden ist die Zeremonie an ihrem Höhepunkt angelangt: Zahlreiche Demonstranten ziehen an den Seilen. Das Gatter bricht zusammen. Eine weitere Stunde später ist das Metallgerüst komplett zusammengebrochen. Fein säuberlich werden die Stahlteile zur Seite geräumt. Nichts trennt die Bauern, Indígenas und internationalen Globalisierungskritiker mehr von den Beamten der mexikanischen Polizei. Doch die Situation eskaliert nicht, kein Stein fliegt. Über Megaphon erklären koreanische Gewerkschafter und lateinamerikanische Campesinos, warum sie hier am »kilometro cero«, dem abgesperrten Eingang zur Hotelzone im mexikanischen Cancún, demonstrieren.

»Sie dachten, wir gehen mit Gewalt vor«, sagt ein Sprecher der weltweiten Landarbeiterorganisation Via Campesina. »Aber wir haben heute nur die Mauer des Hungers, der Ausbeutung und der Straflosigkeit zerstört.« Es ist bereits der siebte Tag in Folge, an dem Globalisierungskritiker in dem Karibikbadeort auf die Straße gehen, um gegen die 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) zu demonstrieren. Doch der koordinierte Angriff der Bauern von Via Campesina, der Gewerkschafter aus Südkorea, der Indígenas aus Chiapas, der gewaltfreien Direkten Aktion aus den USA sowie militanter studentischer Gruppen aus Mexiko-Stadt ist zweifellos die beeindruckendste Aktion dieser Tage.

Dabei sind nur wenige Stunden vergangen, in denen die Globalisierungskritiker nicht in Erscheinung treten, seit die rund 4 500 Wirtschaftsexperten, Regierungsvertreter und Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen am 10. September mit ihrer WTO-Tagung begonnen haben. Immer wieder schaffen es kleine Gruppen, in die hoch gesicherte Hotelzone vorzudringen und dort die Straße zu blockieren. Am Freitag prangt an einem Kran gegenüber dem Kongresszentrum »Centro de Convenciones« ein großes Transparent: »Que se vayan todos« – »Alle sollen abhauen«.

Wenige Meter vom »kilometro cero« entfernt haben sich einige Hundert Menschen im »Camp Lee« eingerichtet, benannt nach dem Aktivisten Lee Kyang Hae, der sich am vergangenen Mittwoch aus Protest gegen die WTO-Politik in Cancún das Leben nahm. Der Freitod des Präsidenten der Vereinigung südkoreanischer Bauern und Fischer löst eine Welle eigenartiger Trauerbekundungen und pseudorevolutionärer Suizidverherrlichung aus. In Anlehnung an den in Genua erschossenen Carlo Giuliani heißt es auf Wandparolen: »Carlo lebt, Lee lebt«. Die mexikanische linke Tageszeitung La Jornada stellt fest, dass der Tod in Cancún »zu einem Weg zur Verbrüderung der Völker« geführt habe, und La boca del huracan, die Zeitung des Indymedia nahe stehenden unabhängigen Medienzentrums der Globalisierungskritiker, weiß: »Wir sind alle Lee Kyang Hae«. In der Sehnsucht großer Teile der Bewegung nach schlichten Weltbildern rufen Demonstranten »Die WTO tötet Bauern, der Imperialismus tötet Palästina« und drohen: »Lees Tod wird gerächt.«

Einzig die italienischen Disobbedienti bleiben auf dem Teppich und bilden nach eigenen Worten »eine dissonante Stimme außerhalb des Chores«. Sie verlassen eine Trauerdemonstration, weil sie nicht an der »Verherrlichung Lees« als Märtyrer teilnehmen wollen. Man trauere um den Koreaner, so die Italiener und Italienerinnen, aber die Bewegung müsse »das Opfer, das Märtyrertum und die Selbstzerstörung als Form des kollektiven Kampfes ablehnen«. Den Zapatisten gleich praktiziere man Rebellion als »eine Kraft des Lebens, des Begehrens und der Freude«.

Trotzdem wird die 180köpfige südkoreanische Delegation nach dem Tod Kyang Haes zum Symbol für konsequentes Handeln gegen die verhasste WTO. Immer wieder erscheint der Trupp von Gewerkschaftern und Bauern auf den Straßen, immer wieder stehen sie in der ersten Reihe. »Wir haben uns vor allem auf den Kampf auf der Straße vorbereitet«, sagt eine ihrer Sprecherinnen vorab.

Aber auch die gelegentlich kämpferische Stimmung auf der Straße kann nicht über die schwache Mobilisierungskraft der Globalisierungskritiker hinwegtäuschen. Rund 20 000 Teilnehmende hatte man erwartet, letztlich reisten aber höchstens 5 000 Menschen an, weniger als die Hälfte von ihnen bleibt bis zur abschließenden Demonstration am Samstag.

Dennoch werden auch diese Tage wieder als Erfolg in die Geschichte der globalisierungskritischen Bewegung eingehen. Nicht nur, weil die Globalisierungskritiker bewiesen haben, dass sie mit geringen Kräften zur Intervention gegen die WTO fähig sind und die massive Medienpräsenz zu nutzen wissen. Einmal mehr hat die hochkarätige Versammlung im »Centro de Convenviones« ihre Unfähigkeit unter Beweis gestellt und ist medial schlichtweg abgeblitzt. Fünf Tage lang diskutierten die Teilnehmer der WTO-Konferenz über eine Liberalisierung der internationalen Agrarpolitik, ohne auch nur einen Schritt voranzukommen.

Weiterhin blockieren die USA und die EU den Vorschlag der G 21, einer Gruppe von mittlerweile 24 Staaten, zu der Brasilien, Indien, China und Ägypten und weitere Schwellenländer zählen. Deren Forderungen: die völlige Abschaffung aller Exportsubventionen und eine bedeutendere Verringerung von Zöllen in Industrie- als in Entwicklungsländern.

Handelsminister von vier westafrikanischen Staaten klagten zudem den sofortigen Stopp der Subventionen auf Baumwolle ein. Wenn in den reichen Ländern weiter so viel subventioniert werde, drohe der Zusammenbruch ihrer Ökonomien, sagten die Handelsminister aus Benin, Burkina Faso, Tschad und Mali. Dennoch beharrte etwa die deutsche Verbraucherschutzministerin Renate Künast in Cancún darauf, die Agrarfrage sei nicht alleine ein Nord-Süd-Problem. Ihre Regierung machte sich vor allem für ein Abkommen stark, um deutschen Unternehmen mehr Investitionssicherheit zu garantieren.

Als auch noch bei den vier »Singapur-Themen« – u.a. Investitionen, Vergabe von Regierungsaufträgen, Handelserleichterungen – die Interessen von Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern aufeinanderprallten, stand das Scheitern der WTO-Runde fest. In einer gemeinsamen Entschließung der 146 Mitgliedsstaaten wurde Cancún als »Rückschlag« bezeichnet. Die NGO Action Aid erklärte hingegen lapidar: »Keine Einigung ist besser als eine schlechte Einigung.«

Für viele der Demonstrierenden sind solche Debatten sowieso nicht von Bedeutung. Die WTO sei eine »illegitime Organisation«, mit der es nichts zu verhandeln gebe, sagt Via-Campesina-Präsident Rafael Alegría. Selbst der Abbau von Importzöllen der EU und der USA würde den Millionen von Kleinbauern der Länder des Südens nichts nutzen, nur die Agrarindustrien dieser Staaten würden davon profitieren. »Nieder mit der WTO«, rufen deshalb die Bauern von Via Campesina. Daran arbeiten die Beteiligten der Welthandelsorganisation derzeit genauso emsig wie die Protestierenden auf der anderen Seite des Zauns am »kilometro cero«.