Der Krieg des Yassir Arafat

Drei Jahre nach Beginn der al-Aqsa-Intifada und zehn Jahre nach »Oslo«: Die palästinensischen Bemühungen um eine Internationalisierung des Konflikts kommen voran. von andré anchuelo

Arafats Zukunft liegt in den Händen Sharons und Jassins«, kommentierte am Freitag Heiko Flottau in der Süddeutschen Zeitung die jüngsten Entwicklungen im Nahostkonflikt. Geradezu idealtypisch hat der Korrespondent in Ramallah die deutsche Haltung zum palästinensischen Krieg gegen Israel auf den Punkt gebracht: Während sich Yassir Arafat, der von Ausweisung bedrohte Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), verzweifelt um eine neue Waffenruhe bemühe, seien die wahren Extremisten nicht nur in der Person von Hamas-Führer Ahmed Jassin, sondern auch in Israels Ministerpräsident Ariel Sharon zu suchen.

Dabei könnte nach drei Jahren al-Aqsa-Intifada jedem, der es wissen will, klar sein, dass Arafat ein doppeltes Spiel betreibt. Gegenüber westlichen Journalisten, Diplomaten und Politikern gibt er weiterhin den Friedensnobelpreisträger, der bisher nur leider von »entwürdigenden« Angeboten Israels davon abgehalten wurde, den Konflikt friedlich beizulegen. »Wir wollen in Frieden und gegenseitiger Nachbarschaft mit unseren israelischen Nachbarn leben«, so Arafat Ende April 2002 gegenüber einer deutschen Buchautorin.

Doch in den an seine eigenen Leute gerichteten Worten klingen die Absichten des PA-Vorsitzenden vollkommen anders. Bereits im April 2000, drei Monate bevor er den Gipfel von Camp David mit seiner harten Haltung zum Platzen brachte, hatte Arafat mit erneuter Gewaltanwendung gedroht: Die Palästinenser würden sich möglicherweise wieder »der Intifada-Option zuwenden«. Gegen Ende der Verhandlungen im Juli 2000 sandte er an das »mutige palästinensische Volk« folgende Botschaft: »Seid bereit. Die Schlacht um Jerusalem hat begonnen.«

Als schließlich Israels damaliger Oppositionsführer Ariel Sharon am 28. September 2000 den Jerusalemer Tempelberg besuchte, war das mitnichten der Auslöser oder gar Grund für den Beginn der al-Aqsa-Intifada. Tatsächlich wurde in Sharons innenpolitisch motivierter Aktion endlich der geeignete Anlass gesehen, die lange geplante »Schlacht« zu starten. Marwan Barghouti etwa, damals Generalsekretär der Westbank-Sektion von Arafats Fatah-Bewegung und Chef von deren Tanzim-Milizen, gab das ein Jahr später gegenüber arabischen Zeitungen zu. Sharons Besuch sei der »angemessenste Moment für den Ausbruch der Intifada« gewesen, so Barghouti.

Doch zunächst mussten sich PA und Fatah nach Kräften bemühen, damit es tatsächlich zu diesem »Ausbruch« kam. Man verteilte Flugblätter, der palästinensische Rundfunksender rief zur »Verteidigung der al-Aqsa-Moschee« auf, Schulen wurden geschlossen, die Schüler mit Bussen zum Tempelberg gekarrt, und der von der PA eingesetzte und bezahlte Prediger in der al-Aqsa-Moschee stachelte die Massen auf: »Nicht umsonst warnt uns der Koran vor dem Hass der Juden und nennt sie an erster Stelle unter den Feinden des Islam.« So kam es erst einen Tag nach Sharons Besuch, der im übrigen mit den PA-Sicherheitsdiensten abgesprochen gewesen war, zur angestrebten Eskalation der Auseinandersetzungen.

Den ganzen Sommer des Jahres 2000 über hatte Arafat in seinen Organisationen und Milizen Vorbereitungen für gewaltsame Zusammenstöße treffen lassen. PA-Sicherheitsoffiziere wurden zu militärischen Kursen in islamische »Bruderstaaten« geschickt, Arafats Präsidentengarde Force 17 baute Milizgebäude und Polizeistationen zu militärischen Festungen aus, und die Fatah hielt in den palästinensischen Gebieten 40 Trainingscamps für Teenager ab. Die Äußerungen von Arafat und seinem Gefolge über eine Rückkehr zur Intifada stellten also keineswegs den verzweifelten Versuch dar, einen sich ohnehin anbahnenden spontanen Volksaufstand zu vereinnahmen. Vielmehr waren sie von realen Kriegsvorbereitungen begleitet worden.

Allerdings war die Rückkehr der palästinensischen Führung zum »bewaffneten Kampf« keine Idee des Jahres 2000. Bereits 1994 – zur Hochzeit des Oslo-Prozesses – hatte Arafat persönlich zur Fortsetzung des »Jihad« zur »Befreiung Jerusalems« aufgerufen. Die Osloer Abkommen würden dabei einen bloß taktischen Kompromiss zur Verbesserung der eigenen Position darstellen. Nabil Shaath, enger Arafat-Vertrauter und derzeit PA-Außenminister, präzisierte 1996: »Wir haben entschieden, unser Heimatland Schritt für Schritt zu befreien.« Sollte Israel nicht mit der Realisierung der Osloer Abkommen fortfahren, werde man zur Gewalt zurückkehren. Mittlerweile habe man aber 30 000 bewaffnete Soldaten zur Verfügung. Faisal Husseini, der inzwischen verstorbene PLO-Repräsentant in Jerusalem, schließlich verglich Mitte 2001 Oslo mit einem Trojanischen Pferd, mit dessen Hilfe die PLO durch die »befestigten Tore« Israels geschlüpft sei. Ziel bleibe weiterhin die »Befreiung« Palästinas – vom Jordan bis zum Mittelmeer. Husseini galt bis zu seinem Tod als Gemäßigter.

Doch das ursprüngliche »taktische« Ziel des Krieges – Entfaltung von Druck auf Israel zwecks Verbesserung der eigenen Position bei den Folgeverhandlungen zu Camp David, die von Oktober 2000 bis Januar 2001 geführt wurden – war mit dem Ende der Amtszeit von US-Präsident William Clinton und der Abwahl von Israels Premier Ehud Barak im Januar bzw. Februar 2001 obsolet geworden. Offensichtlich traf die palästinensische Führung kurz vor den israelischen Wahlen die strategische Entscheidung, die Verhandlungen fürs erste durch eine weitere Eskalation zu ersetzen, um so eine substanzielle Internationalisierung des Konflikts zu erreichen. »Wir würden uns wünschen, Sharon richtete ein ordentliches Massaker an«, hieß es damals der Zeit zufolge aus der PA. Dann nämlich werde das »Modell Kosovo« funktionieren.

Doch die PA wollte sich lieber nicht darauf verlassen, dass Sharon von alleine zu seiner Rolle als »Israels Milosevic« (so die Süddeutsche damals) finden würde. So wurden im Januar 2001 die al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden der Fatah gegründet, die fortan unter anderem auch Selbstmordanschläge im israelischen Staatsgebiet verübten – in propagandistischer Konkurrenz, aber praktischer Zusammenarbeit mit den Islamisten von Hamas und Jihad, was sich in gemeinsam durchgeführten Attentaten ausdrückte. Zugleich wurde der im Fernsehen der PA, in den von der PA kontrollierten Moscheen und im PA-Schulsystem betriebene »Shahid«-Kult um die Suizidbomber erheblich ausgeweitet. Des Weiteren verstärkte die PA ihre Bemühungen, sich schwere Waffen zu besorgen. Allein auf dem im Januar 2002 von der israelischen Marine aufgebrachten Frachter »Karine A« fanden sich 50 Tonnen zum Teil hochmoderner Rüstungsgüter.

Finanziell ermöglicht wurde der PA die Kriegsführung unter anderem durch das Sponsoring der Europäischen Union (EU), die bereits im November 2000 mit zusätzlichen Zahlungen einsprang – zum Ausgleich für die ausgesetzte Weiterleitung von Zoll- und Steuereinnahmen durch Israel an die PA. Im letzten Jahr, dem dritten Kriegsjahr, erreichten die EU-Hilfen den höchsten Stand seit 1994. Wie eine Fülle von Dokumenten belegt, die die israelische Armee in der Westbank konfiszierte und deren Authentizität letztlich auch von PA-Stellen eingestanden wurde, wurden aus genau dem allgemeinen Haushalt, in den auch die EU ihre Hilfen eingezahlt hatte, Mordanschläge auf Israelis finanziert. An ihnen haben sich neben den al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden auch Mitglieder der verschiedenen Polizei-, Sicherheits- und Geheimdienstorganisationen der PA beteiligt. Zum Teil trugen die Zahlungsanweisungen dafür sogar Yassir Arafats Unterschrift.

In Brüssel interessierten diese Tatsachen kaum. Lieber glaubte man in Europa die von der PA erfundene Geschichte vom »Massaker« in Jenin im April 2002 (Jungle World, 17-20/02). Als in europäischen Medien Politiker und Menschenrechtler von einer »humanitären Katastrophe« zu raunen begannen, hoffte die PA, das von ihr angestrebte »Kosovo-Szenario« endlich erreicht zu haben. Zu einer, diesmal gegen Israel gerichteten, Neuauflage der Konferenz von Rambouillet kam es allerdings nicht. Dem stand das im Nahen Osten anders geartete US-Interesse entgegen.

Ein Jahr nach Jenin, im April 2003, hatte die PA dennoch einen qualitativen Sprung erreicht. Mit der Veröffentlichung der Road Map, dem Friedensplan des aus den USA, der EU, Russland und dem Generalsekretär der Vereinten Nationen gebildeten Nahost-Quartetts, hatte auch Washington offiziell eingestanden, was sich bereits seit Camp David abgezeichnet hatte: dass die USA alleine nicht in der Lage sind, den Konflikt zu befrieden.

Doch nachdem Arafat nunmehr die Road Map für »tot« erklärt und seinen Premier Mahmoud Abbas zum Rücktritt gezwungen hat, sind alle Voraussetzungen für eine erneute Eskalation gegeben. Angesichts dieser düsteren Aussicht fordert inzwischen selbst ein Manfred Lahnstein, Präsident der erklärtermaßen mit Israel solidarischen Deutsch-Israelischen Gesellschaft: Die Vereinten Nationen sollten den Staaten des Nahost-Quartetts das Mandat erteilen, Truppen in die palästinensischen Gebiete zu entsenden – wofür Israel sich zuvor zurückziehen müsse. Das aber ist genau das, was Arafats Informationsminister Yassir Abed Rabbo bereits im November 2000 forderte.