Der Westen wird Osten

Lettland hat dem Beitritt zur EU zugestimmt. Die Westbindung kommt für den baltischen Staat aber teuer. von xandi korb und stefan link

Wo liegt Daugavpils? In der Europäischen Union, nämlich ab Mai 2004. Auch richtig ist, dass es in der ehemaligen UdSSR liegt. Daugavpils ist die zweitgrößte Stadt Lettlands, hier lebt ab kommendem Jahr die größte russische Minderheit innerhalb der EU. Mit dem Beitritt der drei baltischen Staaten und ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen weitet sich das einstige westeuropäische Wirtschaftsbündnis auf das Gebiet der verblassten UdSSR aus. Nach dem Resultat in Litauen, wo knapp 90 Prozent für einen EU-Beitritt votierten, stimmten in der vorigen Woche Estland und am vergangenen Samstag Lettland mit je 67 Prozent dem Beitritt zu.

Die Verteufelung der sowjetischen Vergangenheit Lettlands war vor der Abstimmung das Argument von EU-Gegnern und Befürwortern gleichermaßen. Die lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga, die zusammen mit der Mitte-Rechts-Regierung des Landes mit Nachdruck für die Bindung an die EU geworben hatte, sagte: »Wenn wir jetzt in Armut leben, so liegt das weder an der Unabhängigkeit noch an Europa. Es liegt an der Sowjetunion und ihrer wahnsinnigen und unangemessenen Wirtschaftsweise.« In Zukunft werde die EU-Mitgliedschaft gerade den sozial Benachteiligten helfen, hofft Vike-Freiberga. Die lettische Außenministerin Sandra Kainiete verglich die sowjetische Vergangenheit und die europäische Zukunft so: »Das eine war eine Art Vergewaltigung. Jetzt nähern wir uns einer Liebesheirat. Das ist der Unterschied.«

»Wir hatten keine Wahl«, sagt dagegen Ieva Zalite. Eine isolierte Position zwischen Russland und der EU sei für Lettland unmöglich gewesen, behauptet die Dozentin für Deutsch an der Lettischen Universität in Riga. Am vergangenen Sonnabend hat sie für den Beitritt zur EU gestimmt. Pessimistisch bleibt sie trotzdem: »Es wird auch künftig keine Stabilität geben. Schauen Sie doch auf die Arbeitslosigkeit in Deutschland.« Derzeit ist sie prozentual deutlich höher als in dem baltischen Staat.

Die Gegner des Beitritts beschwören mit nationalistischen Argumenten vermeintliche Gemeinsamkeiten von Sowjetunion und Europäischer Union. Von »erneuter Versklavung« ist die Rede, aber man fürchtet sich auch vor dem »Ausverkauf Lettlands an westliche Konzerne«. Nationalistische Letten tun sich schwer mit dem Gedanken, dass das seit zwölf Jahren unabhängige Lettland innerhalb der EU an Souveränität einbüßen könnte. Hatte man sich doch in den neunziger Jahren nach Kräften bemüht, vermeintlich ureigene Traditionen zu reaktivieren. So setzte das Parlament 1993 als Gründungsverfassung des neuen Staates den nur geringfügig veränderten Text von 1922 wieder in Kraft. Die Jahre der Unabhängigkeit eines lettischen Nationalstaates zwischen 1918 und 1940 sind Projektionsfläche nicht nur vieler Wünsche, sondern konkreter Politik. So haben alle Menschen, die sich seit dem Verlust der Unabhängigkeit 1940 im Land ansiedelten, zunächst kein Anrecht auf die lettische Staatsbürgerschaft. Diese Politik zielt gegen die große russische Minderheit, die zu sowjetischer Zeit ins Land kam.

Heute ist fast jeder dritte Einwohner Lettlands russischer Muttersprachler. Vor allem in der Hauptstadt Riga und dem ländlichen Hochland Latgale mit seiner Hauptstadt Daugavpils im Osten des Landes wird man auch nach dem Beitritt überwiegend russische Gespräche hören. Jedoch blieben 337 000 Russischsprachige dem EU-Referendum gezwungenermaßen fern. Denn wer nicht lettischer Bürger sein will oder mangels Sprachkenntnissen nicht sein kann, ist nicht wahlberechtigt. Der wahlberechtigte Teil der russischsprachigen Bevölkerung machte sich für einen Beitritt besonders stark, da er sich eine Minderheitenpolitik nach EU-Standards erhofft. Tatsächlich übten die Nato und die EU einigen Druck auf die lettische Regierung aus. Im April 2002 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Lettland wegen einer Sprachklausel im Wahlgesetz: Für Ämter sollte nur kandidieren dürfen, wer die lettische Sprache »in ihrer höchsten Anforderung« beherrscht. Zuvor hatte die estnische Regierung ein ähnliches Gesetz kassieren müssen.

Das lettische Parlament schaffte die Klausel ab, führte aber fast gleichzeitig einen Verfassungszusatz ein, der das Lettische als alleinige Arbeitssprache für alle politischen Institutionen festschreibt. Für mehr als 40 000 Russischsprachige, die überhaupt kein Lettisch beherrschen, bedeutet dies, dass sie sich stets in Begleitung eines Dolmetschers auf den Weg zur Behörde machen müssen. Eine Quote zwang bis Juni 2003 Hörfunk und Fernsehen, 75 Prozent des Programms in lettischer Sprache zu senden. Das Verfassungsgericht verbot aber diese Diskriminierung.

Wie wird sich der Beitritt Lettlands zur EU auf den Alltag der Menschen auswirken? »Die Preise und Steuern werden steigen«, sagt Ieva Zalite. Das dürfte der Realität entsprechen. Denn die Übernahme des mehrere tausend Seiten starken Kompendiums der EU-Verordnungen, wird teuer. Um beispielsweise die in den Verordnungen festgelegten hohen Umweltschutzstandards durchzusetzen, wird es in Lettland enormer staatlicher Investitionen bedürfen. Auch der Ausbau der Grenze zu Russland und Weißrussland gemäß dem Schengener Abkommen wird hohe Kosten verursachen. Gedeckt werden sie, wie europaweit üblich, durch Einsparungen in den gerade erst entwickelten sozialen Sicherungssystemen. So kündigte Ministerpräsident Einars Repse gleichzeitig mit seinem vehementen Eintreten für den Anschluss an, dass alle sparen müssten, um den Staatshaushalt kompatibel für die EU zu machen. All diejenigen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, wird die Anpassung mithin besonders hart treffen: ehemals Beschäftigte der privatisierten Staatsbetriebe, Rentenempfänger sowie die Studierenden. Vor allem bei kleinen Landwirten herrscht Unklarheit, ob ihnen die EU-Subventionspolitik zugute kommt oder ob der neue Binnenwettbewerb ihre Existenz bedroht.

Doch in vieler Hinsicht ist der kommende Beitritt die formale Bestätigung einer längst eingeleiteten Entwicklung. Seit Mitte der neunziger Jahre sind westeuropäische Länder, allen voran Deutschland, die Haupthandelspartner des baltischen Staates. Auch daran, dass Lettland Rohstoffe gegen Konsumartikel tauscht, wird sich so schnell nichts ändern. Die Ausfuhr von Holz füllt mehr als ein Drittel des Exportvolumens.

Ins Land zurück kommt Kommunikationstechnologie: Nach Estland hat Lettland die größte Handydichte Osteuropas. Dennoch wird Lettland 2004 das ärmste Land der Europäischen Union sein. Um einer starken Arbeitsmigration nach Westen zu steuern, setzte die EU Übergangsregelungen für die innereuropäische Freizügigkeit durch, die zumindest bis 2007 in Kraft sind.

In Rigas Altstadt feierten junge Menschen das Ja zur EU auf den Straßen, als es um Mitternacht bekannt gegeben wurde. Präsidentin Vike-Freiberga lobte ihre lettischen Landsleute, die ihre »demokratische Reife« bewiesen hätten, warnte aber auch, die EU sei »kein Rosengarten«.

Lettland steht unter dem Druck, die straffen Vorgaben für die Westeingliederung einhalten zu müssen: Nato- und EU-Beitritt im Mai 2004, Ratifizierung des Schengen-Paktes 2006. Die jüngste Wirtschaftsstudie rechnet mit der Einführung des Euro im Jahre 2007. Auf militärischem Gebiet ist die Zusammenarbeit bereits Routine. Im Schatten der Abstimmung findet das vierte gemeinsame Manöver von Nato und baltischen Truppen in Lettland statt. Es trägt einen gewohnt klangvollen Namen: Baltic Eagle.