Hausangestellte ohne Rechte

Der Name hält nicht, was er verspricht: Die EU-Verfassung sichert weder die Grundfreiheiten der EU-Bürger noch begrenzt sie die Staatsgewalt. von stephen rehmke

Es war ausgerechnet Winston Churchill, der 1946 mit seiner Züricher Rede über die »Neugründung einer europäischen Familie« wohl den entscheidenden Impuls für die europäische Integration gab. Im vom deutschen Vernichtungs- und Eroberungskrieg geprägten Europa spiegelten seine Worte die Idee, einer erneuten Aggression durch eine feste Einbindung in ein gemeinsames Wirtschaftssystem entgegenzutreten. Den Anfang machte 1951 die »Montanunion«: Mit der westeuropäischen Kohle- und Stahlproduktion wurden die ökonomischen und militärischen Schlüsselindustrien einer supranationalen Aufsicht unterstellt. Im Laufe der nächsten fünfzig Jahre entstanden mehrere Bündnisse und Kooperationen parallel zueinander, darunter die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die polizeilich-justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Diesen Zusammenschlüssen wurde mit dem Ministerrat, der Kommission, dem Parlament und dem Gerichtshof ein undurchsichtiges Kompetenzgeflecht zur Seite gestellt.

Erst mit dem Maastrichter Unionsvertrag von 1992 führten die Mitgliedsstaaten die Gemeinschaften und Organe in ein Vertragssystem zusammen. Mit Blick auf die bevorstehende Erweiterung der EU sollte schließlich eine Verfassung Ordnung in den Laden bringen und für »mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz« sorgen.

Die Wahl des Begriffs »Verfassung« wirkt jedoch in politischer und rechtlicher Hinsicht befremdlich. Denn spätestens mit der Herausbildung der Nationalstaaten im 18. Jahrhundert stellt eine Verfassung die Legitimationsgrundlage für einen Staat dar. Die EU dagegen soll explizit kein Staat werden, sondern ein Staatenverbund bleiben.

Entscheidender dürfte aber sein, dass mit dem bürgerlichen Verfassungsbegriff immer die Idee verbunden ist, die Staatsgewalt rechtsstaatlich zu begrenzen und die Grundfreiheiten der Bürgerinnen und Bürger zu sichern. Ferner stellt eine Verfassung gewöhnlich fest, dass der Träger des staatlichen Gewaltmonopols das jeweilige Staatsvolk ist. Gerade diese demokratischen Strukturen sind in der EU noch weniger ausgeprägt als schon in den Nationalstaaten. Bislang ist der Ministerrat der einflussreichste Entscheidungsträger in der EU. Damit werden die nationalen Exekutivorgane in der Union zur gesetzgebenden Institution, die nicht mehr direkt gewählt, sondern nur noch über den Umweg der nationalen Parlamentswahlen legitimiert ist. Zudem sind die intermediären Strukturen der parlamentarischen Demokratie auf europäischer Ebene nur äußerst schwach ausgebildet. Abgesehen von den über lose Fraktionsbündnisse agierenden nationalen Parteien im europäischen Parlament, gibt es kaum eine europäische Öffentlichkeit. Sowohl die Medien als auch die Bevölkerung in den Mitgliedssstaaten suchen ihre Bezugspunkte und Identitäten weiterhin im nationalen Rahmen. Angesichts der aktuellen globalen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wird sich daran wohl in absehbarer Zeit nichts ändern. Dementsprechend wird auch das Defizit an Öffentlichkeit und parlamentarischer Demokratie bestehen bleiben.

Die Mitgliedsstaaten der EU greifen diese rechtsstaatlichen Mängel mit der Begriffswahl »Verfassungskonvent« auf. Suggeriert der Begriff doch, dass für die neue Verfassung die Grundlagen der Union erheblich überarbeitet würden. Dazu ist es jedoch nicht gekommen, wie sich am 13. Juni zeigte, als der Verfassungskonvent den vier Teile und 462 Artikel umfassenden Entwurf präsentierte. Im Wesentlichen ist das Vertragswerk eine systematisierte Darstellung des bereits geltenden Rechts in der EU. Die Neuerungen, über die die Mitgliedsstaaten am Wochenende in Rom berieten, betreffen vornehmlich die Verhältnisse zwischen den Vertragsstaaten und die globale Positionierung der EU, die insbesondere in der Auseinandersetzung mit den USA an Bedeutung gewinnen dürfte.

Mit den 59 Artikeln des ersten Teils wird sich die Europäische Union ein reformiertes Organisationsstatut geben, das dem Spannungsverhältnis zwischen den künftig 25 Mitgliedsstaaten Rechnung tragen soll. Allerdings orientiert sich die geplante Sitzverteilung in einigen Gremien so stark an den Interessen der dominierenden großen Staaten, dass die 19 kleinen und mittleren sich benachteiligt sehen. Insbesondere gegen die Einführung der »qualifizierten Mehrheit« im gesetzgebenden Ministerrat protestierten die so genannten Zwerge.

Im ersten Teil des Verfassungsentwurfs finden sich außerdem zwei Protokolle über die »Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität« und die »Rolle der nationalen Parlamente«, die die Verteilung der Kompetenzen regeln sollen. Beispielsweise wäre demnach für die Währungs-, Zoll- und Handelspolitik künftig ausschließlich die EU zuständig, in Fragen der Umwelt und des Binnenmarkts dagegen sowohl die EU als auch die Mitgliedsstaaten.

Tatsächlich wird sich an der Grundordnung der europäischen Union also nichts ändern. Es werden weiterhin die Mitgliedsstaaten bzw. ihre jeweiligen Regierungen sein, die über die Geschicke der Union und ihrer Einwohner bestimmen. Der versprochene Zuwachs an Demokratie ist dem Verfassungsentwurf nicht zu entnehmen. Die stellenweise erweiterten Mitspracherechte für das Europäische Parlament werden das Demokratiedefizit kaum mindern. Bürgerrechtsgruppen und Parlamentarier hoffen auf die 2001 in Nizza verabschiedete und 54 Artikel umfassende Grundrechte-Charta, die in den zweiten Teil der Verfassung aufgenommen werden und damit Rechtsverbindlichkeit erhalten soll. Inwiefern diese Bürgerrechte vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) dann durchgesetzt werden können, bleibt allerdings abzuwarten. Bislang zeigte sich der EuGH diesbezüglich wenig bürgerfreundlich, anders als sein von der Union unabhängiges Pendant in Strasbourg, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Dass die bürgerlichen Freiheitsrechte und der in ihnen implizierte Rechtsstaat in der neuen Verfassung nur vordergründig eine Rolle spielen, wird spätestens im dritten Teil des Verfassungsentwurfs deutlich, in dem unter anderem auch die justizielle Zusammenarbeit geregelt werden soll. Hier ist die Zusammenführung der Kompetenzen der nationalen Justizbehörden für die europaweite Strafverfolgung vorgesehen. Die Rechte der Beschuldigten werden wie schon durch den vom Ministerrat beschlossenen Europäischen Haftbefehl weiter eingeschränkt: Die StrafverfolgerInnen können ihre Ermittlungsverfahren mit einer geschickten Kombination aus den nationalen Regelungen so gestalten, dass es den Beschuldigten unmöglich wird, ihre verfassungsmäßigen Verteidigungsrechte effektiv wahrzunehmen. In der europäischen Familie, wird man Churchill vorhalten dürfen, wird es für die Hausangestellten immer ungemütlicher.