Europäische Patrioten

Der Versuch, durch Abgrenzung von den USA eine eigene europäische Identität zu schaffen, funktioniert nur mit Hilfe von Projektionen. von anton landgraf

Europa erlebt eine erstaunliche Renaissance und gilt auch bei Linken plötzlich als aufregendes Projekt. Dienten EU-Debatten um Milchquoten und Kohäsionfonds noch vor kurzem bestenfalls als Schlafmittel, produzieren die Diskussionen um »Europa« nun lebhafte Assoziationen.

Spätestens seit den europäischen Massendemonstrationen gegen den Irakkrieg im Februar dieses Jahres erscheint Europa als progressive Alternative zu den übermächtig agierenden USA. Nur hier scheint es möglich, dass ein Netzwerk basisdemokratischer Initiativen und zivilgesellschaftlicher Bewegungen grundlegenden Einfluss auf die Politik gewinnt und sich dadurch als Gegenentwurf zu den autoritären USA empfiehlt.

Historische Weihen erhält Europa gar, wenn es als potenzielles Erbe sowohl des (westeuropäischen) sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates wie des (osteuropäischen) Realsozialismus verstanden wird, das sich entschieden gegen den US-Neoliberalismus wende, der die weltweiten Finanzmärkte dominiere und die Sozialsysteme vernichte. So argumentieren etwa Jürgen Habermas und Jacques Derrida, die sich daher für eine »Wiedergeburt Europas« aussprechen, um den »hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren«. Arthur Heinrich hat diese europäischen Patrioten erst kürzlich wieder empfohlen (Jungle World, 14/03).

Erstaunlich sind solche Hoffnungen schon deswegen, weil sie hartnäckig von der schlechten Realität abstrahieren. Ein oberflächlicher Blick reicht bereits, um ernsthafte Zweifel an dem behaupteten progessiven europäischen Geist zu hegen. Warum soll ausgerechnet ein Kontinent, in dem Koalitionen mit rechtspopulistischen und postfaschistischen Parteien selbstverständlich sind (Österreich, Italien, Portugal, Dänemark, Norwegen), in dem sich ein konservativer Kandidat für das Präsidentenamt in der Stichwahl gegen einen faschistischen Herausforderer behaupten musste (Frankreich) und in dem die so genannten linken Parteien kaum mehr von ihren konservativen Gegnern zu unterscheiden sind (Großbritannien, Deutschland), den fortschrittlichen Geist der Geschichte verkörpern?

Dennoch verteidigen viele Europafreunde ihre Hoffnungen wie ehrgeizige Eltern ihre missratenen Zöglinge. Der Nachwuchs hat gute Ambitionen, wenn nur nicht der schlechte Einfluss wäre. Und sind neoliberale Wirtschaftspolitik, Aufrüstung und die allgegenwärtige Kulturindustrie nicht etwa ein Exportgut der USA? Sind nicht die übelsten Figuren in der EU – Blair, Berlusconi, Aznar – die treuesten Vasallen der Vereinigten Staaten?

Doch der Versuch, durch Abgrenzung von den USA eine eigene europäische Identität zu schaffen, funktioniert nur mit Hilfe von Projektionen. Wer hoffte, aus den massenhaften Protesten gegen die US-Politik könne auch ein »anderes Europa« entstehen, leidet heute unter Depressionen. Denn während es mittlerweile zum guten Ton gehört, die USA als Reich des Bösen zu verdammen, verhalten sich dieselben Kritiker ihrer eigenen Regierung gegenüber apathisch. Während im Frühjahr noch Hunderttausende gegen die »Bush-Krieger« auf die Straße gingen, fallen die Proteste gegen den größten Sozialabbau der Nachkriegsgeschichte mangels Beteiligung einfach aus. Im Vergleich zur aktuellen Situation erscheinen selbst die fünfziger Jahre in Deutschland als renitente Zeit.

Wenn schon die Gegenwart nicht viel hergibt, so könnte man wenigstens darauf verweisen, dass die bisherige Geschichte der europäischen Integration Anlass zur Hoffnung gibt. Immerhin scheinen durch diese Vereinigung zum ersten Mal Kriege innerhalb Europas undenkbar, und eine friedliche Transformation der Nationalstaaten scheint möglich.

Also doch ein Modell für die Welt? Sicherlich ist die europäische Integration ein historischer Fortschritt angesichts der Geschichte des letzten Jahrhunderts. Dennoch ist die Hoffnung, darin eine Überwindung des Nationalstaates zu sehen, übertrieben.

»Wenn wir für die Einigung Europas und die EU eintreten, praktizieren wir nicht idealistische Selbstlosigkeit, sondern verfolgen eigene praktische Interessen«, beschrieb bereits 1992 der damalige Außenminister Klaus Kinkel das deutsche Selbstverständnis gegenüber der EU. Nicht die Auflösung des Nationalstaates steht im Mittelpunkt, im Gegenteil: Die EU wird als ein Instrument angesehen, mit dem die jeweiligen nationalstaatlichen Interessen besser durchgesetzt werden können. Für den »modernen Patriotismus«, wie der britische Premierminister Tony Blair dieses Projekt einmal nannte, bedeutet die europäische Integration keinen Verzicht auf nationalstaatliche Macht, sondern die Ausweitung der Spielräume.

Die Ausbildung einer neuen europäischen »Identität« lässt sich eindrucksvoll in der aktuellen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik der EU demonstrieren, in der die Ausgrenzung des »nicht Identischen« zur europäischen Staatsräson erhoben wird – unter dem Beifall aller nationalen Regierungen.

Dies erklärt auch, wieso der Nationalismus in der vergangenen Dekade zugenommen hat, obwohl doch ständig von dessen Bedeutungsverlust die Rede war. »Ein Satz wie jüngst von Gerhard Schröder ›Über die wichtigsten Fragen der Nation wird in Berlin entschieden und nirgendwo anders‹«, wäre ihm, »aber auch Helmut Schmidt oder Willy Brandt nie in den Sinn gekommen«, wunderte sich Helmut Kohl kürzlich in der taz.

Dabei basierte doch die EU von ihren Anfängen an vor allem auf der Einsicht, dass sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nationale Interessen in zunehmenden Maße nur noch in Abstimmung mit anderen europäischen Staaten durchsetzen lassen. Die EU wurde gegründet, um einen eigenen homogenen Binnenmarkt einzurichten, um eine Währung zu etablieren, die auf dem Weltmarkt mit dem US-Dollar konkurrieren kann, und um gemeinsame geostrategische Interessen zu sichern. »Europa ist ein Mittel zum Zweck der nationalen Interessen«, wie Karl Lamers, der in den neunziger Jahren gemeinsam mit Wolfgang Schäuble das Kerneuropa-Konzept entwarf, in der aktuellen Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik versichert.

Demzufolge definierte sich Europa zuerst als wirtschaftliche Gemeinschaft, die sich gegen die Weltmarktkonkurrenz – und das sind derzeit fast ausschließlich die USA – durchsetzen muss. Bereits auf ihrem Gipfel in Lissabon vor vier Jahren hat die EU den Anspruch formuliert, die ökonomische Führung in der Welt anzustreben.

Die wirtschaftspolitischen Strategien, mit denen dieses Ziel erreicht werden soll, sind seitdem in ganz Europa zu bewundern: Deregulierung der Märkte, Förderung des Finanzsektors, Binnenmarktintegration, »Modernisierung« der Sozialsysteme und wirtschaftlicher Umbau zu einer modernen Kommunikations- und Informationsökonomie heißen die Vorgaben an die Mitgliedsstaaten.

Der wirtschaftliche Zusammenschluss kann aber nur funktionieren, wenn er von einer politischen und militärischen Integration begleitet wird. Erst dann ist das »handlungsfähige Europa« perfekt, auf das »die übrige Welt doch geradezu sehnsüchtig wartet«, wie Lamers in den Blättern prophezeit.

Ähnlich argumentiert auch Werner Weidenfeld, Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP) in München und Präsidiumsmitglied der einflussreichen Bertelsmann-Stiftung. Das Bruttosozialprodukt der Europäischen Union sei um 15 Prozent größer als das der USA, der Anteil am Welthandel liege um ein Drittel höher. Die EU habe also das Potenzial zur Weltmacht. Allein, es fehle noch ein »operatives Zentrum«, das Weidenfeld sich von einer »Union von Deutschland und Frankreich« verspricht, die einem künftigen Vereinigten Europa vorausgehen solle. Erst wenn es gelinge, eine »Kultur des weltpolitischen Denkens zu entwickeln«, werde Europa eine »markante gestalterische Relevanz entfalten«.

Als nächsten Schritt müssen die EU-Staaten daher ihre nationalen Kapazitäten zusammenlegen und eine gesamteuropäische Streitkraft schaffen. Nur mit Hilfe der »Vereinigten Streitkräfte von Europa«, erklärten kürzlich einige CAP-Autoren in der Frankfurter Rundschau, seien »die neuen geostrategischen Herausforderungen« zu bewältigen.

Anstatt diese Entwicklung der Union zu einer militärischen und wirtschaftlichen Weltmacht zumindest zu reflektieren, fordern nun Linksliberale sogar noch deren forcierten Ausbau. Eine Opposition, die sich nicht durch einen europäischen Patriotismus definiert, muss sich hingegen an anderen Zielen orientieren. Nicht der Kampf gegen ein internationales (sprich US-amerikanisches) Finanzkapital, sondern gegen die konkreten Arbeitsverhältnisse und die neuen Formen der Warenproduktion gehört in den Fokus der praktischen Kritik. Zur Subversion der europäischen Identität gehört die Ablehnung des Schengener Systems und seiner Ausdehnung bis an die Grenzen der neuen Ost-Beitrittskandidaten und der südosteuropäischen Einflusszonen. Dazu gehört auch die Denunziation des Ausbaus der EU zur global agierenden Militärmacht und selbst ernannten »Friedensstifterin«. Eine Kritik, die es ernst meint, beginnt im eigenen Land.