Zurück auf Null

Die ersten direkten Verhandlungen zwischen Belgrad und Pristina drohen zu scheitern, bevor sie begonnen haben. von boris kanzleiter, belgrad

Mühsam ist der Alltag der Menschen im Kosovo. Nicht nur Armut und eine Arbeitslosenquote von knapp 60 Prozent quälen die Mehrheit der Bevölkerung, ganz gleich, ob sie sich als Albaner, Serben, Roma, Türken oder Muslime in Volkszählungslisten eintragen. Überaus ärgerlich sind vor allem auch die vielen bürokratischen Absurditäten, welche durch den Krieg und die nachfolgende Installierung einer Zivilverwaltung durch die Vereinten Nationen entstanden sind. So fehlen in Pristina Geburts- und Eigentumsregister, weil sie von den jugoslawischen Truppen beim erzwungenen Abzug im Juni 1999 nach Serbien mitgenommen wurden. Neue Papiere können auf Grund der fehlenden Dokumentation nicht ausgestellt werden. Der Schwarzhandel um serbische Dokumente blüht.

Andererseits versuchen die albanischen Behörden, der in abgeschottete Enklaven gedrängten serbischen Minderheit das Leben so schwer wie möglich zu machen. Zur Verzweiflung der ohnehin von dauernder Angst vor Übergriffen bewaffneter albanischer Nationalisten geplagten Serben wird ihnen bei der Telekommunikation und der Stromversorgung überdies ständig der Draht nach Belgrad abgeschnitten. Das heißt aber nicht, dass die Stromversorgung der albanischen Mehrheitsbevölkerung funktioniert. Vielmehr gibt es immer noch zahlreiche Stromausfälle, weil die Kapazitäten im Kosovo nicht ausreichen und die Versorgung aus Serbien eingestellt wurde.

Ob Dokumente, Telekommunikation oder Stromversorgung, die politisch brisante Frage nach der Rückkehr über 200 000 vertriebener Serben und Roma oder die Frage nach dem Verbleib von Hunderten von Menschen, die noch immer als »verschwunden« gelten – es gibt jede Menge Handlungsbedarf, um das Alltagsleben im Kosovo zu normalisieren.

Deshalb haben die in der so genannten Kontaktgruppe mit den USA versammelten, führenden europäischen Mächte für diese Woche hochrangige Delegationen aus Belgrad und Pristina nach Wien zu den ersten Direktgesprächen der Konfliktparteien seit dem offizielle Ende des Krieges und der Installierung eines UN-Protektorates zitiert. Es soll dabei, so der neue UN-Verwalter Harri Holkeri, lediglich um »technische Fragen« gehen. Der eigentliche Streitpunkt, die ungelöste Statusfrage der Provinz, steht offiziell nicht zur Debatte.

Trotzdem droht den Gesprächen ein Ende, bevor sie begonnen haben. Denn während für Belgrad die Initiative der Kontaktgruppe eine Erfüllung eigener Forderungen darstellt, weigern sich die albanischen Parteien in Pristina bis zuletzt, wenigstens einer Teilnahme an Gesprächen zuzustimmen. Der Grund dafür ist einfach: Während sich die serbische Regierung unter Premierminister Zoran Zivkovic von der Demokratischen Partei (DS) einen politischen Punktgewinn von den Gesprächen verspricht, geht in Pristina neuerdings die Angst um, von den Großmächten im Stich gelassen zu werden.

Zivkovics Ausgangsposition für die Verhandlungen ist komfortabel. Im August hat das serbische Parlament in einem seltenen Akt der Einstimmigkeit eine Resolution verabschiedet, in der das Kosovo als unter »serbischer Souveränität« stehend betrachtet wird. Erst wenn »menschenrechtliche Standards« für die verbliebenen 100 000 Serben garantiert seien, könne über eine weitgehende Autonomie der Provinz verhandelt werden, heißt es dort.

Mit dieser Resolution im Rücken können Zivkovic und seine Delegation in Wien das unbestrittene Sicherheitsdefizit für die serbische Minderheit beklagen und sich als Verteidiger einer drangsalierten Nation präsentieren. Die serbische Delegation muss die Statusfrage dabei gar nicht ansprechen, weil der völkerrechtliche Status quo, der das Kosovo nach wie vor als Teil Serbiens definiert, im Grunde ihren Forderungen entspricht.

Für Zufriedenheit in Belgrad hat gleichzeitig eine unerwartete, dafür aber umso spektakulärere Vereinbarung gesorgt, die Anfang Oktober in Washington getroffen wurde. Die US-Regierung hat ein Angebot Zivkovics angenommen, Anfang nächsten Jahres eine bis 1 000 Mann starke Kampftruppe zur Unterstützung der US-Verbände im »Krieg gegen den Terrorismus« in die Taliban- und al-Qaida Hochburg Kandahar nach Afghanistan zu schicken.

Nebojsa Covic, Kosovo-Beauftragter der serbischen Regierung und Delegationsleiter in Wien, freut sich darüber, dass nach so vielen Jahren der »Missverständnisse, Konflikte und Konfrontationen« nun eine »militärische Kooperation« zwischen den USA und Serbien möglich sei. »Wie Sie wissen, haben unsere Soldaten und Polizeikräfte Erfahrung im Kampf gegen den Terrorismus, und ich hoffe, die alliierten Kräfte können von dieser Erfahrung profitieren«, sagte der ehemalige Milosevic-Mitarbeiter Covic in einem Interview.

Da die US-Administration gleichzeitig ein Angebot des ehemaligen UCK-Generalstabschefs und jetzigen Kommandeurs des Kosovo-Schutzkorps, Agim Ceku, auch einige hundert ehemalige UCK-Kämpfer nach Afghanistan zu schicken, ablehnte, darf die Entscheidung getrost als ein Signal Washingtons gesehen werden, dass Serbien seinen Status als Paria hinter sich gelassen hat und sich potenziell zum »neuen Europa« zählen darf. Das Kosovo dagegen, ebenso wie das mehrheitlich muslimische Bosnien-Herzegowina und Albanien, gilt in US-amerikanischen Sicherheitskreisen immer mehr als potenzieller Aufenthaltsort islamistischer Terroristen.

Bei den in Pristina regierenden albanischen Parteien stößt der Dialog in der momentanen Konstellation deshalb auf tiefsten Widerwillen. Gleich zweimal hat es das von Ibrahim Rugovas Demokratischer Liga (LDK) dominierte Parlament abgelehnt, sich überhaupt mit der Vorbereitung des Dialogs zu befassen. Nur mit der Drohung »sehr ernster Konsequenzen« durch den Sicherheitskoordinator der EU, Javier Solana, konnte die albanische Delegation auf den Weg nach Wien gezwungen werden.

Auch hausgemachte Gründe sind für die störrische Haltung der albanischen Parteien verantwortlich. Wie Ridvan Berisha vom Kosovo-Fernsehen RTK bemerkt, sind die Politiker Gefangene ihrer eigenen Propaganda, in der bereits Gespräche mit der serbischen Seite als »Kokettieren mit dem ehemaligen Feind« gelten. Wer zuerst mit einer Delegation aus Belgrad im Fernsehen zu sehen ist, muss deshalb mit kräftigen Stimmeneinbußen bei der nächsten Wahl rechnen.

Es bleibt den albanischen Politikern also nicht viel mehr, als zu hoffen, dass die Gespräche an den politischen Auseinandersetzungen in Serbien scheitern werden. Die Aussichten sind dabei nicht schlecht. Denn abseits aller mit nationalen Emotionen aufgeladenen Auseinandersetzungen um das Kosovo ist die Regierung des Djindjic-Nachfolgers Zoran Zivkovic mittlerweile durch zahlreiche Skandale und eine sich verschärfende soziale Krise so weit unter Druck der Opposition geraten, dass vorgezogene Neuwahlen immer wahrscheinlicher werden. Damit würde indes die vorübergehende Handlungsfähigkeit in der Kosovo-Frage erst einmal wieder verschwinden. Die Spieler wären zurück auf Null gesetzt.