Die Sache zwingt nicht

Im öffentlichen Sektor zu sparen und die Sozialversicherungen zu privatisieren, löst keine Probleme. von ingo schmidt

Über die wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele herrscht Einigkeit in der politischen Klasse Deutschlands. Weil die öffentlichen Haushalte und die Sozialversicherungen knapp bei Kasse seien, müssten die Ausgaben gekürzt und gleichzeitig Anreize zu privater Vorsorge geschaffen werden. Angesichts des steigenden Anteils von Rentnern an der Gesamtbevölkerung sei dies umso dringlicher. Gestritten wird lediglich über Tempo und Umfang der Spar- und Privatisierungspolitik, nicht aber über ihre Logik.

Ein wirtschaftspolitischer Richtungsstreit scheint völlig überflüssig, haben sich die Regierungen der EU-Mitgliedsländer mit dem 1998 beschlossenen Stabilitäts- und Wachstumspakt doch auf eindeutige Vorgaben geeinigt. Um den öffentlichen Schuldenstand und die daran geknüpfte Zinsbelastung zu verringern, wurde eine Höchstgrenze der jährlichen Neuverschuldung festgeschrieben. Nur im Falle einer schweren gesamtwirtschaftlichen Störung darf sie überschritten werden.

Die Festlegung einer solchen Ausnahmeklausel hat sich längst als weise Voraussicht erwiesen. Genau so rechtfertigen es die Regierungen Deutschlands und Frankreichs, dass sie die Defizitgrenze überschritten haben und wieder überschreiten werden.

Wären die öffentlichen Ausgaben im selben Maße zurückgegangen wie die private Nachfrage während der Konjunkturkrise im Jahr 2001, hätte tatsächlich eine schier ausweglose gesamtwirtschaftlichen Störung produziert werden können. Dennoch versuchen beide Regierungen, eine dem Stabilitätspakt verpflichtete Politik zu betreiben, und produzieren so zumindest Störungen, die sich sehen lassen können.

Die Schulden steigen unter anderem, weil die Kombination aus gesamtwirtschaftlicher Stagnation und technischem Fortschritt zu abnehmender Beschäftigung führt. Seit 2001 stieg die Arbeitslosenquote im Euro-Raum von 8,0 auf 8,4 Prozent im Jahr 2002. Geringere Einnahmen der Sozialversicherungen führten dazu, dass in Deutschland gesetzlich garantierte Zahlungsverpflichtungen aus dem Bundeshaushalt finanziert wurden.

Um den selbst geschaffenen Stabilitätspakt irgendwann wieder einmal einhalten zu können, wurde der Sparzwang ausgerufen, für die öffentlichen Haushalte wie für die Sozialversicherungen. Nur so könne irgendwann wieder alles gut werden.

Gesetzliche Sozialversicherungen – so das Argument – verführen dazu, öfter als nötig zum Arzt zu gehen und auf die Überweisungen vom Arbeitsamt zu warten, anstatt sich einen Job zu suchen. Dumm seien diejenigen, die einer geregelten Arbeit nachgehen, Abgaben zahlen und die Simulanten und Faulenzer durchfüttern, behauptete der Spiegel im September. Durch die Privatisierung der Kranken- und Rentenversicherung, die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und den verkürzten Bezugszeitraum von Arbeitslosengeld sollen die Sozialversicherungsbeiträge gesenkt und die Nettoeinkommen erhöht werden. Andernfalls würde irgendwann auch der Allerdümmste die Lust an der Arbeit verlieren.

Dieser Fall könnte jedoch eher eintreten, wenn der Beitragssatz zur Sozialversicherung von gegenwärtig immerhin 41,3 Prozent der Bruttolohnsumme verglichen wird mit der Entwicklung der Besteuerung von Gewinnen und Vermögen. Deren Anteil am gesamten Steueraufkommen sank von 20,4 Prozent im Jahr 1991 auf nur noch 13,3 Prozent 2002.

Bei dem Versprechen, die Sozialabgaben zu verringern, wird unterschlagen, dass stattdessen natürlich Beiträge zu privaten Kranken- und Rentenversicherungen fällig werden.

Die unternehmerische Logik erklärt übrigens auch, warum noch niemand eine private Arbeitslosenversicherung vorgeschlagen hat. Das Risiko der Arbeitslosigkeit ist so hoch, dass entweder ein solches Unternehmen für den Betreiber nicht rentabel oder der Versicherungsbeitrag unbezahlbar wäre.

Sollte der Stabilitätspakt gelockert werden oder das Versprechen höherer Nettoeinkommen als Folge verringerter Versicherungsbeiträge seine Überzeugungskraft verlieren, kann der Zwang zum Sparen immer noch mit einer unabänderlichen Naturentwicklung begründet werden. Da die Menschen hierzulande immer älter werden und sich nicht im erforderlichen Maße vermehren, erhöht sich der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung. Immer mehr Rentner langen in die Taschen von immer weniger Beschäftigten und treiben außerdem das Gesundheitssystem in den Ruin. Schließlich gehen Alte auch häufiger zum Arzt.

Aber auch das Problem des demographischen Wandels soll durch private Versicherungen zu lösen sein. Dabei wird jedoch folgendes übersehen: Egal ob die Renten aus den Lohnabzügen oder aus den Zinsen des zuvor angesparten Kapitals bezahlt werden, es sind in jedem Fall die Lohnbezieher, nicht die Kapitalmärkte, welche die Güter und Dienstleistungen herstellen, die von den Rentnern konsumiert werden. Immer und überall versorgt die aktive Erwerbsbevölkerung die nicht Erwerbstätigen.

Auch ist nicht zu vergessen, dass private Rentenversicherungen sehr viel stärker negativ auf Wirtschaftskrisen reagieren als das gegenwärtig noch dominierende Umlageverfahren. Dieses hat zwar als Folge von Arbeitslosigkeit und der Zunahme nicht sozialversicherter Jobs erhebliche Einnahmeprobleme. Die aber sind gering im Vergleich zu der Vernichtung von Ersparnissen, die droht, wenn sie über den Kapitalmarkt nicht in rentable Anlagefelder gelenkt werden können. Diese Lehre kann aus dem Ende der New Economy gezogen werden.

Wichtiger als die Abwägung der Vor- und Nachteile unterschiedlicher Rentensysteme ist allerdings die weiter reichende Frage, ob es tatsächlich ein Demographieproblem gibt. Die öffentliche Klage über den Geburtenrückgang in Deutschland passt jedenfalls nicht zu den gleichzeitig verbreiteten Warnungen vor einer globalen Bevölkerungsexplosion. Wären Arbeitsplätze vorhanden und die Löhne reizvoll, würde sich das Problem von selbst erledigen.

Aber es gibt keinen Arbeitskräftemangel, weder im alten Deutschland noch in vielen jungen Ländern der kapitalistischen Peripherie. Hier wie dort sind die Beschäftigungsmöglichkeiten knapp, gelten Menschen, die weder über Vermögen noch über ein Einkommen verfügen, als unnütze Esser. Durch private Renten- und Krankenversicherungen, die den Menschen vorgaukeln, mit ihren Prämienzahlungen würden sie schrittweise in die vermögenden Klassen aufsteigen und den Unbilden lohnarbeitszentrierter Sozialversicherungen entfliehen, ist dieses Problem nicht zu lösen. Gegenüber solch einer schlechten Utopie erscheint die Forderung, das Lohnsystem ganz abzuschaffen, nachgerade realistisch.