Generation Rudolf

Nur weil er seinen Wohnsitz nach Spanien verlegte, strichen die Behörden einem Erwerbsunfähigen kurzerhand die Rente. von markus bickel

Rudolf Sappel zählt zu den Leuten, die ganz genau wissen, was im Fernsehen läuft, auch wenn sie selbst gar kein Fernsehgerät besitzen. »Volksverdummung, Propaganda, Heuchelei«, schimpft der Frührentner regelmäßig über die manipulierende Macht der Massenmedien. Bücher und Zeitungen rührt der 40jährige nicht an, »weil mir die Bäume leid tun, aus denen das Papier ist«, wie er in seinem sanften niederbayerischen Dialekt versichert. Wenn er wirklich mal wissen muss, was politisch gerade vor sich geht, zieht er seine Informationen eben aus dem Internet. Aber das kommt selten genug vor in der Abgeschiedenheit seines derzeitigen Wohnsitzes in Südspanien, eine halbe Autostunde von Alicante entfernt.

Auch ohne Glotze hatte Sappel Anfang September den richtigen Riecher, als er in einem Brief an die Landesversicherungsanstalt (LVA) in Düsseldorf schrieb: »Bekommen die Beamten der LVA mittlerweile auch Prämien für jeden erfolgreich abgewiesenen Rentner, so wie einige Berliner Sozialämter an ihre Beamten Prämien ausgeteilt haben sollen für jeden abgelehnten Sozialfall?«

Zwei Jahre nachdem dem gebürtigen Münchner wegen anhaltender psychischer Probleme im Sommer 2001 endlich eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugesichert worden war, spuckte der Automat in Alicante plötzlich kein Geld mehr aus. Weil Sappels Briefkasten in Berlin aufgrund einer vom Vermieter verordneten Rundumsanierung des Hauses nicht mehr zugänglich war, hatte die für Rentenzahlungen zuständige Landesversicherungsanstalt kurzerhand ihre Überweisungen eingestellt.

Mehrere Mails, Faxe und Briefe Sappels blieben unbeantwortet, stattdessen schickten die Beamten der Düsseldorfer Behörde ihm per elektronischer Post einen Fragenkatalog. »Wir sind gesetzlich verpflichtet zu prüfen, ob Sie weiterhin ›erwerbsgemindert‹ sind«, hieß es in hölzerner Bürokratensprache. Entsprechende ärztliche Atteste seien umgehend vorzulegen. »Wenn Sie nicht mitwirken, kann die Leistung ganz oder teilweise versagt werden.«

Duktus und Stoßrichtung solcher Schreiben sind seit Jahren bekannt. Seitdem Bild im August jedoch den Fall von »Florida-Rolf« auf ihren Frontseiten verhandelte, geraten im Ausland lebende Sozialhilfeempfänger und Rentner immer stärker ins Visier der Behörden. Spiegel Online legte kurz darauf mit einer »Generation Rolf« betitelten Geschichte nach, in der Zeit wurde die Hetze gegen alternde Deutsche an den Stränden von Benidorm und Marbella unter dem Titel »Die Strandortfrage« abgehandelt. Erst vorige Woche entdeckte der Spiegel einen neuen vermeintlichen Schlupfwinkel für Sozialschmarotzer in der Türkei, obwohl von den vier Millionen Sozialhilfebeziehern nicht einmal 1 000 außerhalb Deutschlands leben.

Bundesregierung und Opposition eigneten sich die Berichte dankbar an. »Sozialhilfe kann nicht dafür da sein, Bundesbürgern in Florida ein schönes Leben zu finanzieren«, erklärte Sozialministerin Ulla Schmidt, nachdem bekannt geworden war, dass das niedersächsische Landessozialamt dem vor 25 Jahren in die USA ausgewanderten Rolf John monatlich 874 US-Dollar zahlt. Dass dem Mann nach Abzug der fixen Kosten nur noch 200 Dollar zum Leben bleiben, erwähnte die Ministerin nicht.

Erst als Sandra Maischberger den 64jährigen Anfang September in ihrer Talkshow interviewte, kam der mutmaßliche Sozialbetrüger selbst zu Wort. 1993 sei er auf Druck des Sozialamtes »zwangsheimgeführt« worden und deswegen vor Gericht gezogen, erklärte der live aus Miami zugeschaltete John. Ein Psychiater habe ihn damals als selbstmordgefährdet bezeichnet und bestätigt, dass ihm ein Leben in Deutschland nicht zuzumuten sei.

Auch Rudolf Sappel denkt nicht daran, sich dem Druck der Behörden zu beugen. Nach Berlin, wo er bis zum Beginn der Sanierung und dem damit verbunden Rausschmiss aus seiner Wohnung im Juni lebte, zieht ihn vorerst nichts zurück. Luft und Vegetation in dem kleinen Tal unweit der spanischen Mittelmeerküste, wo er sich zur Zeit aufhält, sind ohnehin besser für die angeschlagene Gesundheit des gelernten Elektrikers.

Das Recht, seinen Wohnort selbst zu bestimmen, verteidigt er auch gegenüber den Beamten der Versicherungsanstalt. »Ich befinde mich nicht auf Bewährungsstrafe der LVA«, heißt es in einem der zahllosen Schreiben, die Sappel seit der Einstellung der Rentenzahlungen nach Düsseldorf geschickt hat. Die Forderung nach immer neuen Attesten von Neurologen und Psychiatern betrachtet er als Zumutung. »Ich bin doch kein Auto, das jährlich eine Abgassonderuntersuchung machen muss, sondern ein ausgebrannter Mensch.«

Obwohl Gutachter ihm bereits 1989 bestätigten, dass er psychisch erkrankt sei – Depressionen sowie als asthenische Reaktionen bezeichnete körperliche und seelische Erschöpfungszustände sorgen heute noch für als lebensbedrohlich empfundene Herzattacken –, verlangen die Behörden immer neue Beweise seiner Erwerbsunfähigkeit. Und das nach dem zermürbenden, ohne Beistand ausgefochtenen Kampf um die Rente, der nach seiner krankheitsbedingten Entlassung aus dem BMW-Werk im niederbayerischen Dingolfing im Jahr 1991 begann.

»Himmelhoch jauchzend« sei er damals aus der Fabrikhalle spaziert, erzählt der überzeugte Fruktarier, bei dem seit Jahren nur Obst und Körner auf den Tisch kommen. Doch statt einer Zukunft als Künstler folgten weitere persönliche Rückschläge. Seine Frau ließ sich damals von ihm scheiden, das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter wurde ihm entzogen. Ein Schuldenberg von fast 40 000 Mark und mehrere gescheiterte Beziehungen verstärkten seine Verzweiflung, die sich im Herbst 1995 in einer Psychose entlud. Seine Mutter stimmte einer Zwangseinweisung in die psychiatrische Abteilung des Bezirkskrankenhauses Maingkofen zu.

Nach fast einem Monat, in dem ihm ständig Psychopharmaka verabreicht wurden, schaffte es Sappel schließlich, seine Mutter davon zu überzeugen, ihn aus der Psychiatrie zu holen. Ein Jahr lang durfte er dann die Wohnung einer Nachbarin hüten, doch selbst Staubwischen und Blumengießen waren ihm unerträglich. »Ich versuchte zu arbeiten, indem ich mich disziplinierte etwas zu tun, was ich nicht mehr konnte«, sagt er heute. 1997 zog er deshalb ins Berliner »Weglaufhaus«, eine Alternativeinrichtung für Psychiatriegeschädigte (Jungle World, 2/99). Dort ermunterte ihn das Personal, seinen 1991 zum ersten Mal gestellten Rentenantrag zu erneuern.

Was er damit erreichte, will er sich von den Beamten der Landesversicherungsanstalt nicht wieder nehmen lassen. »Nur weil die Bundesregierung vorgibt, knapp bei Kasse zu sein, können Sie mich nicht plötzlich gesund predigen oder ausradieren«, schrieb er vor einem Monat an seinen zuständigen Sachbearbeiter und fügte höflich, wie es seine Art ist, hinzu: »Ansonsten bitte ich Sie, mich nicht weiter zu belästigen und meine wertvolle Zeit zu okkupieren, da ich mich aus gesundheitlichen Gründen nicht mein ganzes Leben lang auf Staatskosten als Versuchskaninchen behandeln lassen muss.«