Ein bisschen Paz

Boliviens neuer Präsident muss zwischen den Forderungen des Kapitals und der Unterschichten vermitteln. von david zorn, la paz

Die Wochen nach dem Aufstand in La Paz erscheinen ruhig, soweit man das Verkehrschaos, das geschäftige Treiben und den Lärm als ruhig bezeichnen kann. Die Geschäfte sind wieder offen, die Regale gefüllt, und die Straßen zwar zur Stoßzeit wieder blockiert, aber diesmal durch Tausende ganz gewöhnlicher Autofahrer. Das Leben scheint sich von einem auf den anderen Tag wieder normalisiert zu haben.

Vor gut zwei Wochen noch bot sich ein ganz anderes Bild. Bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen, vor allem zwischen den Alteños, Campesinos, Arbeitern und Studenten einerseits und dem Militär andererseits, führten zu 86 Toten und über 500 Verletzten, fast alle waren Zivilisten. Außer Demonstranten war niemand mehr auf der Straße, Autoverkehr gab es so gut wie keinen mehr in La Paz, Banken waren bis auf weiteres geschlossen, ebenso wie die meisten Geschäfte, vor denen in den besseren Vierteln Militär mit scharfer Munition postiert war, um sie vor Plünderungen zu schützen. Auf der Avenida Juan Pablo II, die vom Flughafen in El Alto nach La Paz führt, war Stacheldraht gespannt, dort waren Barrieren aus Steinen errichtet, hier und da Barrikaden aus Ziegeln, manche über zwei Meter hoch, um Seitenstraßen abzuriegeln. Die vierspurige Schnellstraße, die hinunter nach La Paz führt, war an mehreren Stellen aufgerissen, Güterwaggons wurden von einer Brücke auf die Fahrbahn geworfen, auch um die Straße für Panzerfahrzeuge zu sperren, wie man erfahren konnte.

Diese Phase wurde zunächst durch den Sturz des Präsidenten Gonzalez »Goni« Sanchez de Lozada beendet. Was »Krieg ums Gas« genannt wurde – die Forderung nach Verstaatlichung der Gasvorkommen diente als Katalysator für alle anderen Partialforderungen – , bildete jedoch nur den vorläufigen Höhepunkt einer Kette von Auseinandersetzungen, vom »Krieg ums Wasser« im April 2000 bis zu den Protesten gegen die Einführung einer Einkommenssteuer im Februar dieses Jahres.

Die herrschende Klasse des ärmsten Landes Lateinamerikas hat angesichts rapide wachsender Arbeitslosigkeit keine anderen Rezepte als die Eliten andernorts: freier Wettbewerb, Senkung der Staatsquote und Privatisierungen. Sie ist aber gezwungen, dies in Einklang zu bringen mit einer Menge von Forderungen der kämpferischen Unterschicht, wie der Landlosenbewegung nach Land, der Minenarbeiter nach mehr Lohn usw.

Vom jetzigen Präsidenten Carlos Mesa, der sein Amt mit der Losung »nicht Rache, nicht Vergessen, sondern Gerechtigkeit« angetreten hat, dürfte kaum eine andere Politik zu erwarten sein als von seinem gestürzten Vorgänger. Außer dass der frühere Journalist Mesa die Interessen des Establishments mit mehr diplomatischem Feingefühl wahren dürfte als de Lozada, der als mehrfacher Minenbesitzer einer der reichsten Männer Boliviens ist. Jedenfalls gilt Mesa vor allem in der Mittel- und Oberschicht als »glaubwürdig«.

Das dürfte ihm aber wenig nützen angesichts der geringen Spielräume, die er hat. Er muss die Bedürfnisse des Kapitals mit den Forderungen der Aufständischen vermitteln. Die haben ihm eine Frist von 90 Tagen eingeräumt, um ihre Forderungen zu erfüllen, ansonsten würden die Streiks und Blockaden fortgesetzt werden. Der »Gonismus mit anderen Mitteln«, wie Mesas Politik oft bezeichnet wird, dürfte also kaum drei Monate überdauern, falls Mesa die Vertreter der Syndikate und Nachbarschaftsräte nicht zu spalten vermag, indem er gesondert mit ihnen ihre Partialforderungen verhandelt und in der Frage des Erdgases vernünftig staatsmännisch bleibt.

Hier scheint auch die offene Flanke der Protestbewegung zu sein: dass sie sich in ihren ideologischen Äußerungen auf dem Boden der politischen Ökonomie und der bürgerlichen Diskurse bewegt. Sie pflegt eine Mischung aus Linksnationalismus, der Phraseologie eines Antiimperialismus der Siebziger, Versatzstücken der Antiglobalisierungsbewegung wie der Kritik am Neoliberalismus und, im Hinblick auf die Vertreter der indígenen Bevölkerung, einen ethnisierenden Diskurs, der etwa die Anerkennung der Aymaras als Nation verlangt. Diese Positionen haben andererseits trotz ihrer Widersprüchlichkeiten ein Potenzial, das angesichts der angespannten Lage über ihre Borniertheiten hinausweisen könnte. Am 23. Oktober sprach auf einer Veranstaltung an der staatlichen Universität von La Paz der Vorsitzende des Gewerkschaftsverbandes COB, Jaime Solares, einerseits von der Nationalisierung des Gases, dann aber auch von einer Arbeiter- und Bauernregierung, von Sozialismus und Revolution, um schließlich die Parteien zu kritisieren: Die Syndikate seien bereits bestehende Organe der Selbstverwaltung und des Kampfes, sie würden sich nie unter die Kontrolle einer Partei begeben.