Im Schwitzkasten

Luis Buñuels Filmklassiker »Der Würgeengel« ist nun als Theaterstück an der Berliner Schaubühne zu sehen. von tanja bogusz

Goldene Glitzergardinen, ein Flügel, ein Teich mit Goldfischen. Der Student Clemens Hacke macht es sich inmitten dieses Interieurs gemütlich auf den schicken weißen Ledersitzen. Der Hausherr erscheint, seine Frau und schließlich nach und nach die geladenen Gäste. Die Party kann beginnen, und schon befinden wir uns inmitten von Thomas Ostermeiers Adaption von »Der Würgeengel«. Sie ist wohl der erste Versuch, den gleichnamigen Film Buñuels von 1962 ins Theater zu bringen. Nun heißt es: Kammerspiel statt »camera-eye«.

Nach einer Opernaufführung lädt der Politiker Siegfried Wallrabe eine 16köpfige Gesellschaft in sein Anwesen, um den Abend gemeinsam bei einem Glas zu beschließen. Seltsamerweise haben der Koch und die Angestellten bereits das Haus verlassen. Die Dinner-Party ist ein Erfolg. Die hochkarätigen Gäste scheinen sich königlich zu amüsieren, blitzende Blicke wirft man sich gegenseitig zu, Drinks werden gereicht, alle sind elegant herausgeputzt. In der fröhlichen Stimmung wird der Wunsch nach Musik laut. Während Martha, die Gastgeberin, der Gesellschaft ein Klavierstück vorspielt, erscheint der Würgeengel – in schwarz und von allen unbemerkt – und hinterlässt einen seltsamen Bann, demzufolge niemand mehr das Haus verlassen kann.

Die Gäste machen es sich gemütlich und scheinen zunächst sogar an ihrer Lage Gefallen zu finden. Doch die Stunden und Tage vergehen, es gibt nichts zu essen außer Zuckerwürfeln, und es gibt kein Telefon. Aus dem Salon wird eine Gefängniszelle, die Masken fallen, die Schminke bröckelt. Während so die äußeren Zeichen des Reichtums nach und nach an Wert verlieren, entblößt sich in diesem zur Kloake gewordenen Festraum das zunehmend entfesselte Bürgerliche. Und niemand wagt den Fluchtversuch.

Blindekuh im Stratoskoplicht vertreibt allen die Zeit, doch irgendwann sind auch die Zigaretten und die anderen Drogen alle. Der Goldfischteich wird zum Durstlöscher, die Hatz auf den, der noch Stoff hat, zu einer beinahe tödlichen Schlägerei, der Gestank aus Pisse und anderen Exkrementen immer unerträglicher. Die Akkumulation des Elends findet erst ihre Grenze, als die von ihrem Tablettenkonsum vollkommen debile Dame des Hauses erneut die Klaviertasten bespielt. Der Bann ist gelöst. Verstört, ohne Abschied und sehr eilig verlassen alle einfach das Haus.

»Wir behaupten nicht, die Moral der Menschen ändern zu wollen, sondern wir werden ihnen zeigen, auf welchen Abgründen sie ihre zitternden Häuser gebaut haben«, gaben die Surrealisten 1925 als Parole aus. Ein zitterndes Haus wird uns auch in der Schaubühne gezeigt. Im Vergleich zu Buñuels Film bleiben die surrealistischen Elemente an der Schaubühne jedoch weitgehend aus. So fehlen die einkehrenden Schafe, die auf dem zu Kleinholz verarbeiteten Mobiliar gegrillt werden ebenso wie der überraschende Auftritt eines Bären.

Der Anti-Bourgeois Buñuel betonte, dass sein Film ebenso unlogisch und wundersam sei wie das Leben selbst. »Die beste Interpretation des ›Würgeengels‹ ist die, dass es keine gibt.« Vielleicht ist es genau dieser entlarvende Witz, der bei Ostermeiers zu braver Inszenierung fehlt.

Am Ende finden sich alle vor dem Grab der Verstorbenen zusammen. Der Kardiologe wünscht eine Schweigeminute, nachdem eh schon geschwiegen wurde. Die Lungenkrebskranke bietet Martha ihr Brot an, während der Doktor zusammen mit dem Oberst seine Zigarette in der Urne ausdrückt. Es regnet. Vielleicht wird die Gesellschaft noch ein Glas bei Wallrabe nehmen.

»Der Würgeengel« von Karst Woudstra. Regie: Thomas Ostermeier. Berliner Schaubühne. Weitere Vorstellungen am 5., 6., 7., 19., 20. und 30. November