Verbotene Liebe

Über Zensur, Literatur, Maxim Billers Roman »Esra« und dessen Feinde. von joachim lottmann

Was bisher geschah: Im Frühjahr wurde Maxim Billers Buch »Esra« per einstweiliger Verfügung gestoppt. Was mit Dieter Bohlens Sachbüchern und Pseudo-Biografien nichts zu tun hat, obwohl es immer damit vermengt wird. Nun, nach dem Urteilsspruch, lichten sich die Nebel. Man schlägt Bohlen und trifft Biller. Man schlägt Biller und trifft den New Journalism. Was in »Esra« drin steht, sagt keiner.

Der Fall hat unerwartet noch einmal an Brisanz gewonnen. Nämlich in der Sekunde, als man das Wort verboten zum ersten Mal schwarz auf weiß gelesen hat. Nach einem halben Jahr der »einstweiligen Verfügungen« von dieser und von jener Seite, also des munteren Schattenboxens, plötzlich ein Urteil, ein Niedersausen der Guillotine, ein ganz anderer Tonfall. Denn der wachhabende Richter hat offensichtlich gar nicht taktieren wollen, hat nicht das Klischee der abwägenden Waage im Kopf gehabt, sondern das des Fanals, der großen Courage, des Zeichensetzens, des Mantels der Mediengeschichte, dessen Saum zu fassen war und den er, der kleine große deutsche Staatsdiener und Richter, mutig ergriff. Um endlich einmal »dem Volk« Recht zu geben, gegen alles Finessieren und juristisches Durchmogeln. Mal ein Machtwort sprechen, sozusagen ganz unjuristisch, aber dem gemeinen Mann aus dem Herzen. Damit seine Privatsphäre endlich geschützt wird. Da heißt es zum Beispiel erstmalig, die Grenze von Fiktion und Realität sei nicht mehr erkennbar gewesen. Und dass der Autor die Sexszenen im Roman nur erfunden habe, mache die Sache noch schlimmer. Nun ist in den ersten Instanzen des Prozesses das Wesen von Fiktion so oft durchbuchstabiert worden, dass diese plötzliche Steinzeitargumentation überrascht und ängstigt. Auch einfältige Mitbürger wissen inzwischen – nach der breiten Diskussion darüber, ausgelöst durch »Esra« im high brow-Bereich und Dieter Bohlen bei den Leuten ohne Abitur –, dass man nach dieser Urteilslogik sofort 90 bis 99 Prozent aller belletristischen Bücher verbieten müsste. Wie also kommt es zu diesem Urteil? Was will es uns in Wahrheit sagen?

Erster Verdacht: Die Begründung ist absichtlich so hanebüchen, damit in der Revision, in die Kiepenheuer & Witsch sofort gegangen ist, ein gänzlich entgegengesetztes Urteil gesprochen werden kann. Sozusagen eine »Steilvorlage« (wie man in Stoibers Bundesland immerzu sagt) für einen fulminanten finalen Freispruch Maxim Billers. Dafür spricht das alte Bild von der »libertad bavariae«, der besonderen Kulturverliebtheit und somit (heimlichen) Liberalität der Herrscherdynastien Bayerns. Und auch, dass Biller ja Münchener ist, und zwar ein recht geschätzter und präsenter. Er ist sozusagen der Oliver Kahn der Popliteratur, anderswo ein umstrittener Held, auf der Wies’n und im P1 aber ein Spezl.

Warum sollte ein Münchener Richter gerade ihn zur Hölle schicken?

Zweiter Verdacht: Die Richter-People (Ehefrauen, Töchter, Homies) haben zufällig im Rahmen der ganzen Affäre Alban Nikolai Herbstens neuen Roman »Meere« gelesen und haben dabei dermaßen das Kotzen gekriegt, sodass sie sich irgendwie abreagieren mussten. Sie wussen ja nicht, dass der Autor auch vorher schon der schlechteste seiner Zunft war und seine Romane auch ohne Denunziation scheußlich. Klar, dass solch ein Stümper verboten gehört (das fände sogar meine Zustimmung). Pech, dass dann ein Meisterwerk wie »Esra« gleich mit untergehen muss, bei der Begründung.

Dritter Verdacht: Die meinen das alles ernst. Die wollen wirklich Geschichte schreiben, wollen ein völlig neues Kapitel vermeintlichen Menschheitsfortschritts aufschlagen, wollen den unveräußerlichen Menschenrechten ein weiteres hinzufügen: ein weit gezogenes neues Recht auf die so genannte Privatsphäre. Medien sollen aus der Privatsphäre rausgedrängt werden, und Schriftsteller, selbst solche vom Kaliber Billers oder Thomas Manns, werden den Medienleuten zugeschlagen. Wer über andere berichtet, wie fiktional und poetisch auch immer, soll fortan das Schwein sein. Nach dem Motto: Seit der »Blechtrommel« (1959) ist sowieso nix G’scheites mehr gschriebn worn, da ist es um die paar Poetenhanseln, die jetzt ins Gras beißen müssen, nicht schade. Sollen sie doch alle jetzt Fantasy-Schmarrn verfassen.

Vierter Verdacht: Es geht um die weitere Zerschlagung des New Journalism. Literatur soll tendenziell weiter gereinigt werden von Realität. Leute wie Helge Timmerberg, Tom Kummer, ja sogar Thomas Meinecke, die den Bundespräsidenten mitten im Roman beim Namen nennen (»Johannes Rau«), sollen nicht mehr länger den belletristischen Status besitzen. Literatur soll wieder neblig im Phantastischen schwafeln und im Nichts versickern, also in der dürren »Phantasie« des Schreibtischwurms. Oder im Gesinnungskitsch des berufenen Gutmenschen. Diese Tendenz zur Entpolitisierung ist ja schon seit drei Jahren zu beobachten. Sogar der Spiegel hat seine großen literarischen Reportagen erst in ein Extramagazin ausgegliedert (Reporter), das dann nach wenigen Ausgaben starb. Die einstmals das Blatt prägenden Edelfedern sind bis auf Grandmaster Matthias Matussek sowie Thomas Hüetlin nahezu verblasst. Man weiß, dass die anderen weiter fleißig schreiben, aber nicht mehr gedruckt werden: nicht im Spiegel, aber erst recht nicht mehr anderswo. Sie weichen meist in den Roman aus, und dieser Weg ist nun verbaut. Die ganze Kisch-Tucholsky-Tradition steht unter Beschuss. Wer Reales mit zu viel Subjektivität auflädt, gilt heute als »Borderline Journalist« und kann einpacken. Kann bei Focus abgucken, wie man politisch korrekten sinnlosen Datenschrott abliefert.

Maxim Biller stand wie kein zweiter für den deutschen New Journalism, also für die Doppelstrategie von Literatur und Journalismus. In seinen Kolumnen in Tempo und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung geißelte er reales Fehlverhalten und mentale Abgründe der Deutschen (= politisch), immer entlang des ganz und gar subjektiv Erlebten geschrieben (=literarisch). In seinen Romanen und Erzählungen tat er dasselbe, nur länger. Der Typ kann fürderhin weder in der einen noch in der anderen Form reüssieren. Maxim ist auf erschütternde Weise traurig. Und zwar nicht so sehr über das Urteil, das auch, sondern noch mehr darüber, mit wie viel Genugtuung es im hehren deutschen Feuilleton aufgenommen wird. Das geht bis zu Ulrich Greiner, der auf der Titelseite der Zeit wohlig konstatiert, Biller müsse nun gerechterweise den Preis für »Vertrauensverrat« bezahlen.

Was aber steht denn eigentlich drin, in »Esra«? Was behauptet es? Ist es nicht seltsam, dass diese Frage noch niemand gestellt hat? »Esra« ist die leidenschaftliche, obsessive, in jedem Satz zweischneidige Liebesgeschichte eines Juden mit einer Nichtjüdin. Der Jude wird von der Familie der Nichtjüdin ziemlich gnadenlos verfolgt. Ich sage »ziemlich«. Denn auch diese feindselige Haltung wird meisterhaft in ihren Ambivalenzen beschrieben. Der Leser versteht diese Gegenseite genauso gut wie den Helden. Ich behaupte sogar: Biller hat die Gegenseite noch weitaus besser und mit viel mehr Liebe beschrieben als den Ich-Erzähler. »Esra« ist absolute Weltliteratur, wie wir sie hierzulande in der Form seit Generationen gar nicht mehr gekannt haben, nämlich dialektisch bis ins letzte unhörbare Stöhnen. Noch nie seit Italo Svevo habe ich »Liebe« so wahr dargestellt gefunden, diese Anziehungskräfte und Irrationalismen, die eben von den Handelnden a priori nicht erkannt werden können, allenfalls vom Autor, der von all dem ebenfalls nichts wissen darf und es dennoch qua kreativer Eruption ausdrücken kann, da die entsprechenden Verletzungen in seiner Seele brennen (da gerade erlebt). Normalerweise müsste das Feuilleton von einem »Glücksfall für die Literatur« sprechen. Tut es aber nicht. Weil der Held nicht ein Herr XY ist, sondern der Jude XY. Dass der Held Jude ist, wird auf jeder Seite deutlich. Und dass die Schwierigkeiten mit der nicht jüdischen Familie der Geliebten damit zu tun haben, kapiert auch jeder Depp. Und zwar auch ohne dass das Wort »Intifada« auch nur einmal fällt. Für die Zeit ist es damit kein Roman mehr, sondern Politik, also Schund.

Ich glaube wirklich, genauso denken sie. Und so werden sie es durchziehen.