Vom Starken zum Schurken

Die französische Atomwaffen-Strategie wird neu ausgerichtet. Gleichzeitig übt die EU im Iran ihre zukünftige Außenpolitik. von bernhard schmid, paris

Eine »kleine Bombe« werde Jacques Chirac in naher Zukunft zünden, schrieb die Pariser Tageszeitung Libération am Montag voriger Woche. Dabei geht es eher um große Bomben. Die französische Atomwaffen-Strategie erfährt derzeit eine Neuausrichtung, die Präsident Chirac in Kürze offiziell verkünden soll.

»Vom Schwachen zum Starken« – so lautete bisher der Kernsatz der französischen Atomwaffen-Doktrin, die in den sechziger Jahren unter Präsident Charles de Gaulle formuliert wurde. Frankreich sollte auch außerhalb des »nuklearen Schirms« der stärkeren US-Militärmacht in der Lage sein, der UdSSR glaubwürdig mit nuklearen Schlägen zu drohen. Dieses Kriegsszenario ist historisch eindeutig überholt.

So soll der neue Leitsatz künftig heißen: »Vom Starken zum Verrückten.« Er richtet sich explizit gegen so genannte Schurkenstaaten oder »verrückt gewordene« Regime in der Dritten Welt, die bestrebt seien, eigene atomare, biologische oder chemische Waffen zu erlangen. Das soll mit einer verstärkten nuklearen Aufrüstung Frankreichs einhergehen.

Die erwartete neue Doktrin weist noch eine zweite Parallele zur Entwicklung der US-Militärstrategie auf. Seit den frühen achtziger Jahren waren Militärexperten jenseits des Atlantiks bemüht, ein strategisches Dilemma aufzulösen: Atomwaffen stellten demnach eine reine »politische Waffe« dar. Militärisch hingegen ließen sie sich nicht real verwenden, da das Risiko einer totalen Eskalation und damit der eigenen Vernichtung viel zu hoch war.

Die Militärpolitiker der Reagan-Ära strebten daher eine Verkleinerung von Atomwaffen an. Diese sollten dank moderner Technik – etwa Laserzündung – so klein gehalten werden können, dass die Schäden begrenzt und kalkulierbar würden. Dadurch wäre ihre reale Einsatzfähigkeit wieder hergestellt. Das Konzept der so genannten mini nukes wurde im Januar 2002 in die US-Militärdoktrin aufgenommen, doch bisher ist die erforderliche Technologie noch nicht ausgereift.

In Frankreich scheint man jetzt in eine ähnliche Richtung zu denken. Namentlich nicht genannte Führungskräfte des Verteidigungsministeriums sagten zu Libération: »Wir studieren, was die Amerikaner tun, und verfügen über einige technologische Bausteine«, um so genannte Miniatur-Atomwaffen im Labor zu entwickeln.

Auf welche potenziellen Konfliktgegner das Nuklearfeuer gerichtet werden könnte, dazu ist bisher öffentlich nichts Konkretes zu erfahren. Dabei gilt allem Anschein nach die Devise: Wer ein Schurke ist, bestimmen wir. Die Ansichten darüber unterscheiden sich in Paris und Washington mitunter deutlich, je nach strategischer Interessenlage

So zählt die US-Regierung den Iran offiziell zu ihrer klassischen Liste der rogue states. Noch Mitte Oktober schien es, als werde gegen den Iran ein ähnlicher Countdown wie ein Jahr zuvor gegen das Baath-Regime im Irak eingeleitet. Der Streit um Kontrollen der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in iranischen Anlagen steuerte auf seinen Höhepunkt zu.

Doch dann setzten die französische, britische und deutsche Diplomatie der Krise zumindest vorübergehend ein Ende. Die Außenminister der drei EU-Staaten reisten nach Teheran, wo sie am 21. Oktober ein Abkommen mit der iranischen Führung unterzeichneten. Die Islamische Republik erlaubt der IAEA auch unangemeldete Inspektionen in iranischen Atomanlagen. Ferner verzichtet der Iran auf sein Programm zur Urananreicherung, wobei bisher noch nicht genau geklärt ist, ob das den Verzicht auf den Bau neuer Anlagen oder die Schließung der bestehenden bedeutet. Dafür erhält die Islamische Republik künftig technologische Hilfe beim Ausbau seines Atomenergieprogramms, das aber nur zu zivilen Zwecken dienen soll.

Dieses Mal zogen Briten, Franzosen und Deutsche an einem Strang, was Teheran angeht. Le Monde etwa bezeichnete diese Erfahrung bereits als Modellfall für eine zukünftige EU-Außenpolitik.

In den siebziger Jahren hatten sowohl Frankreich und die BRD als auch die USA und Israel dem Schah beim Aufbau atomarer Kapazitäten geholfen. Doch dann stürzte Ende 1978 die iranische Straße den autoritär regierenden Monarchen, woraufhin allerdings die Islamisten die Macht ergriffen und ihre Konterrevolution einleiteten. Alle beteiligten Mächte stellten daraufhin ihre Beihilfe zum Aufbau einer Nuklearindustrie ein.

Die Bundesrepublik, die alsbald wieder gute ökonomische Beziehungen zur neuen Diktatur unterhielt, wurde vom Regime bedrängt, die Reaktorblöcke im südiranischen Bushir fertig zu bauen. Doch Siemens gab das Projekt letztendlich auf, woraufhin der Iran russische Firmen heranzog.

Die Beziehungen Frankreichs zum Iran hingegen waren stärker getrübt, da Paris bevorzugte Beziehungen zu seinem geostrategischen Verbündeten Irak unterhielt. Der aber hatte den Iran 1980 angegriffen und einen achtjährigen Krieg ausgelöst.

Doch hinter den Kulissen waren die Kontakte zu Teheran dennoch nicht abgerissen. Im Mai 1986 tat Paris dem iranischen Regime einen Gefallen und forderte Massud Rajawi, den Chef der oppositionellen iranischen Volksmudschahedin im Pariser Exil, zur Ausreise nach Bagdad auf. Der Iran legte nach und verlangte, die französische Atomfirma Eurodif solle die Lieferung angereicherten Urans für die iranischen Atomanlagen wieder aufnehmen.

Paris weigerte sich. Daraufhin kam es im September 1986 zu einer Serie von Bombenanschlägen in Kaufhäusern und öffentlichen Orten der französischen Hauptstadt. Die parallel laufenden, heimlichen Verhandlungen hat Dominique Lorentz 2002 in dem Buch Secret atomique nachgezeichnet.

Die langwierigen Gespräche endeten 1991 mit einem Abkommen zwischen Eurodif und dem Iran. Acht Jahre später sollte Präsident Mohammed Khatami, der sich auf Staatsbesuch in Paris befand, einen Kranz am Grab von Pierre und Marie Curie niederlegen. Die beiden hatten vor über einem Jahrhundert in Paris die Radioaktivität entdeckt. Beobachter sahen darin eine Form des Dankes an Frankreich für die Entwicklung der iranischen Atomindustrie.

Angesichts der hohen Einsatzschwelle für Atomwaffen entscheidet die Beherrschung der Technologie weitaus mehr über die Stellung eines Landes in der internationalen Rangordnung als die reale Verfügbarkeit über die Bombe. Sie einzusetzen, hätte in der Regel selbstmörderische Wirkung.

Dagegen lässt sich die technische Fähigkeit zum Entfachen des Atomfeuers zur Schau stellen. Vorgemacht hat das Jahrzehnte lang die Bundesrepublik Deutschland. Ihr war zwar auf internationaler Ebene der Besitz von ABC-Waffen verboten, aber ihre High-Tech-Konzerne exportierten zugleich atomare Technologie – etwa an die brasilianische Militärdiktatur der siebziger Jahre oder das südafrikanische Apartheidsregime.

Eine strikte Trennung zwischen zivilen und militärischen Atomanlagen ist ohnehin technisch unmöglich. Allerdings gibt es besonders »sensible« Teile des nuklearen Brennstoffzyklus, nämlich die Urananreicherung sowie die »Wiederaufbereitung« genannte Extraktion des Plutoniums, das in den abgebrannten Brennstäben entstanden ist. Denn hier wird mit den potenziellen Rohstoffen für die Bombe – angereichertem Uran oder Plutonium – hantiert, die ansonsten in den Brennstäben eingeschlossen sind.

Auf diese beiden Abschnitte des Brennstoffzyklus soll der Iran nunmehr verzichten. Die abgebrannten Brennstäbe werden dem Abkommen zufolge in Russland eingelagert. Falls das beinhaltet, dass die bestehenden iranischen Anlagen zur Urananreicherung dicht machen müssen, so verliert das Regime jedenfalls eine Trumpfkarte im Spiel der Atommächte. Seinen politischen Rang als »potenzielle Atommacht« wird es dennoch zu bewahren suchen.