Die 100 Leben des Kinos

Die 27. Dokumentarfilmtage in Duisburg. von michael girke

Die Dokumentarfilmtage in Duisburg zwingen Besuchern keine Wahl auf, es läuft stets nur ein Film zur gleichen Zeit. Und sie verschaffen Kinoerfahrungen Raum; nach jedem Film kann das Publikum das Gesehene mit den Machern ausgiebig diskutieren. So verändert sich die Position des Zuschauers, er wird vom bloßen Empfänger zum Akteur.

Michael Pilz’ Film über den afrikanischen Musiker Simon Maschoggi ist beinahe vier Stunden lang. Die Kamera genießt Gastrecht in dessen Haus, ist dabei, wenn er immer wieder zu selbst gebauten Instrumenten greift, wenn Familienmitglieder und Nachbarn einsteigen in die Musik, wenn diese einfach abbricht oder zum Medium kollektiver Intensität wird.

Nach gängigen Vorstellungen von Professionalität ist Pilz’ Film dilettantisch. Es gibt minutenlang keinen Schnitt, kein Untertitel übersetzt Lied- und Sprechtexte. Dadurch sieht man, was synchronisierte und untertitelte Filme uns immer ersparen: die Erfahrung wirklicher Fremdheit; dass Kennenlernen Zeit kostet und Verstehen Arbeit macht; dass Verständigung, zumal über Kontinente hinweg, ohne Missverständnisse, Reibungen und Geduld gar nicht zustande kommt.

Hier technische Standards oder Untertitel einzufordern, wie das im anschließenden Filmgespräch geschah, ist unverschämt, ist Gewalt, die sich als solche nicht wahrnehmen kann, weil sie ganz selbstverständlich ist. Reibungslos soll alles Menschliche ins Bekannte übersetzt, in vertraute Filmformen und Sprachen eingepasst werden. Gerade weil der Film »Simon Maschoggi« sich frei außerhalb der Marktgesetze bewegt, die sonst das Leben regeln, kann der Film fühlbar machen, wie sein Regisseur einen afrikanischen Musiker empfindet und hört, auch das nicht Begriffene, nicht Erfasste.

Eine afrikanische Familie in ihrem Haus wenigstens ein bisschen kennen zu lernen, braucht das nicht mehr als vier Stunden? Die Erfahrungen, die man mit diesen Bildern machen kann, geben einem das Gefühl zurück für die Brutalität von handelsüblichen Fiktionen und Generalisierungen, mit denen die Medienmaschinerie unsere Erwartung abrichtet.

Sind Dokumentarfilme nicht auch Inszenierungen? Kann beim Reden übers Dokumentarische die Grenze zwischen den Kriterien »echt« und »falsch« sinnvoll aufrechterhalten werden? Diese Fragen waren offizielles Thema in Duisburg. Zuschauern sollte, laut Festivalkatalog, ein Spiegel ihrer Bildergläubigkeit vorgehalten werden.

Der Vortrag des Wiener Filmwissenschaftlers Drehli Robnik über das in den letzten Jahren verstärkt zu beobachtende Phänomen der Fake Documentaries schleuderte in Hochgeschwindigkeit die Stich- und Schlagworte aller Cultural-Studies- und Theoriediskussionen der letzten zehn Jahre in den Raum. Schön, wenn Theorie mal offen deliriert und heitere Effekte produziert. Aber was Theorie grau macht: Wenn eigene Lesarten und Ideen vollständig an die Stelle geduldiger Auseinandersetzung mit Film treten. Filmbilder aktivieren die Sinne im gleichen Maße wie den Intellekt. Robniks Vortrag aber gründete ganz auf der Vorrangstellung abstrakter, wissenschaftlicher Begrifflichkeit. So war es kein Zufall, dass Robnik die sinnliche Seite des Films vollständig entging. Einige der von ihm vorgeführten Filmbeispiele zeigten, für jedermann sichtbar, etwas ganz anderes, als das, was er an ihnen beschrieb. Robniks Vortrag führte vor allem eines vor: die Kategoriengläubigkeit hiesiger Kultur- und Filmwissenschaft.

Den Sinnen wurde jede erkennende Funktion bestritten.

Folgt man dieser Art von Theorie, hat das Kino 100 Leben, aber keines davon hat mit Erfahrungen von Wirklichkeit zu tun. Wer sich, seine Vorstellungen und vorformulierten Begriffe nicht herausfordern lässt von dem, was bewegte Bilder an Geschichtlichem, Körperlichem, Psychischem, Sinnlichem aufzeichnen und aufzuzeichnen vermögen, versperrt sich den Möglichkeiten des Kinos.

Harun Farockis »Erkennen und Verfolgen« führt anhand zitierter Bilder aus der Waffenwerbung, aus Flug- und Panzersimulatoren, vor, wie Großrechner und moderne Waffen die Welt sehen. Farockis Bilder wirken aseptisch und unspektakulär, keine Zensurbehörde beanstandet sie. Es sind aber atemberaubende Gewaltbilder. Gewalt geschieht hier, anders als nach landläufiger Auffassung, nicht indem Schauspieler Brutalität nachstellen, die Gewalt ist im Blick. Der Betrachter dieser Bilder aus Rechner- und Waffenperspektive sieht Menschen, also sich selbst, als störende Biomasse auf dem Weg der Waffe zu wichtigen Zielen oder als längst ausgelöscht.

2001 zeigte Robert Bramkamp in Duisburg »Prüfstand 7«, seinen Film über die Geschichte der Rakete. Bei der Recherche stellte er fest, dass es kein einziges Bild von Raketen aus der Perspektive anvisierter Ziele gibt. Weil Raketen mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit lautlos anfliegen und weil sie jederzeit überall auftauchen können, ist eine Aufzeichnung unmöglich. Diese Seite der Wirklichkeit lässt sich nicht dokumentieren, schon gar nicht lässt sie sich in dramatischen Konflikten mit handelnden Personen darstellen. Die beschleunigte Vernichtungskraft moderner Technologie hat sich der Wahrnehmung menschlicher Sinne entzogen, sie macht bilder- und sprachlos. Um überhaupt einen Zugang zu finden, um sichtbar zu machen, wie Technologie in die Geschichte eingreift und das Leben umbaut, muss Farockis Film die Perspektive der Maschinen einnehmen. Das ist nicht kalt und unsexy, es ist präzise.

Farockis Montagen ziehen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft zusammen, machen registrierbar, wie der Zweite Weltkrieg im Heute weiter wirkt. Dass Technologie Menschen in industrieller Produktion und im Krieg überflüssig macht, hat bei Farocki eine freundliche Seite: Vielleicht lassen sich waffentechnologische Entwicklungssprünge, und das heißt Kriege, ganz in die Simulatoren und Rechner verlegen.

Wie soll man »Erkennen und Verfolgen« bezeichnen? Dokumentation, Essayfilm, Found Footage Film, Industriefilm; alles ist richtig und nichts sagend. Die Filmkritikerin Frieda Grafe erklärte vor Jahren, einen Film von Farocki neben einem üblichen Geschichtsfilm zu sehen, mache deutlich, was es heißt, auch mit gefundenen Bildern für sich selbst zu sprechen. Verglichen mit »Erkennen und Verfolgen« waren viele Filme in Duisburg erschreckend standardisiert, geschichtsfrei und blind für die technologische Seite der Wirklichkeit.

»Erkennen und Verfolgen« geht nicht auf in plakativen Anliegen, mit denen Preisverleiher meinen, das schlechte Gewissen rühren und sich selbst schmücken zu müssen. Der Film lädt nicht zur Identifizierung ein, gibt dem Zuschauer an keiner Stelle vor, wie er das Gesehene in vorhandene Begrifflichkeiten einzuordnen hat. Seine Moral liegt in seiner Genauigkeit. Das Anliegen von »Erkennen und Verfolgen« ist ganz schlicht: Der Film fordert auf, die Augen arbeiten zu lassen; zu sehen, was zu sehen ist. Ein solcher Film erhält in Deutschland natürlich keinen Preis.