Ganz normale Grausamkeit

Durch »Welfare to Work«-Programme sind 60 Prozent der bisherigen Empfänger aus der Sozialhilfe gefallen. Die Armut steigt an. von hilmar poganatz, new york

Nur 73 Cent haben Laura Jackson um ihre Lebensgrundlage gebracht. 73 Cent zu viel auf dem Sparkonto waren dem Job Center genug, um der Frau aus dem New Yorker Stadtteil Brooklyn die Sozialhilfe für sich und ihre drei Kinder zu streichen. Das Zeitlimit von zwei Jahren, das seit der Abschaffung des lebenslangen Anrechts auf Sozialhilfe gilt, hatte sie noch nicht erreicht, sie hatte auch keine andere der strengen Regeln verletzt, die seitdem für Hilfeempfänger im Bundesstaat New York gelten. Sie hatte keinen Termin versäumt, kein Jobangebot abgelehnt. Aber Jackson hatte den Fehler begangen, ihre Ersparnisse nicht anzugeben. Die Ersparnisse der vierköpfigen Familie hätten sich auf Null belaufen sollen. Die Behörde kannte kein Pardon: keine Zahlungen mehr, keine Essensmarken, keine Krankenversicherung. 73 Cent sind 73 Cent.

Laura Jackson heißt eigentlich nicht Laura Jackson. Ihre Daten stammen aus dem Fragebogen 787, und er wiederum stammt aus einer der vielen Studien, die sich mit den Folgen der schlimmsten US-amerikanischen Sozialhilfereform seit 1935 befassen. Nachdem das offizielle Census Bureau jüngst einen drastischen Anstieg der Armutsquote um 1,7 Millionen Menschen auf 12,1 Prozent im Jahr 2002 bekannt gab, rücken zu Beginn des Wahlkampfs erneut die Folgen der Wohlfahrtsreform von 1996 ins Blickfeld. Das Magazin Vanity Fair lässt den derzeit führenden Präsidentschaftsbewerber der Demokraten, Howard Dean, in seiner aktuellen Ausgabe sogar für eine Fotoreportage über die neue Armut den Text verfassen. Was ist geschehen?

Vor sieben Jahren schaffte der demokratische Präsident William Clinton gemeinsam mit einem republikanisch kontrollierten Kongress den Anspruch auf Unterstützung von finanziell abhängigen Kindern (ADFC) ab (Jungle World, 34/01). Das neue »Gesetz zum Ausgleich von persönlicher Verantwortung und Arbeitschancen« schuf stattdessen ein riesiges Experiment mit dem Namen »zeitlich begrenzte Hilfe für bedürftige Familien« (TANF). Der Bezug von Leistungen ist seitdem auf fünf Jahre begrenzt und wird nach spätestens zwei Jahren davon abhängig gemacht, ob Sozialhilfeempfänger 20 bis 30 Stunden pro Woche arbeiten. Vor allem aber beendete die Reform den Anspruch der Bedürftigen auf Bundesmittel und überließ die nähere Regelung der Sozialhilfe den Bundesstaaten. Das befristete Reformgesetz lief zwar bereits im September 2002 aus, gilt aber zunächst bis zum März des nächsten Jahres weiter. Danach ist mit einer Neuauflage zu rechnen, die höhere Arbeitsanforderungen, aber auch Teilzahlungen ermöglicht, wenn jemand beispielsweise nur 15 statt 30 Stunden arbeitet.

»Jacksons Geschichte ist nicht ungewöhnlich unter der Sozialgesetzgebung, wie wir sie heute kennen«, behauptet die zitierte Studie des kalifornischen Zentrums für angewandte Forschung (ARC). Sie trägt den Titel: »Die ganz normale Grausamkeit«. Über 1 500 Sozialhilfe-Bedürftige in 13 Staaten befragte das ARC, von denen 33 Prozent berichteten, dass sie die neuen Bestrafungsmechanismen zu spüren bekommen haben – vom Verlust der Leistungen bis zu Haft. Die verworrene Rechtslage mit fast unzählbaren Regelungen auf staatlicher und lokaler Ebene sorgte zudem dafür, dass über 60 Prozent der Bestraften nie über ihre Rechte aufgeklärt wurden. Stattdessen sieht sich über ein Drittel der Frauen eindringlichen Fragen über ihr Sexualleben von Seiten der Behörde ausgesetzt. Das ist keine Überraschung angesichts der Tatsache, dass republikanische Abgeordnete das neue Gesetz 1995 einführten, um »die amerikanische Familie wieder herzustellen« und »die Zahl unehelicher Kinder zu verringern«.

Das New Yorker Urban Justice Center macht seit Jahren darauf aufmerksam, dass Job Center Antragsteller absichtlich schlecht informieren und so den Zugang zu Krankenversicherung und Essensmarken erschweren. New York ist auch der erste Ort, an dem diese Praxis nach einem langen Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Bürgermeister Rudolph Giuliani richterlich unterbunden werden konnte. »Viele Leute kommen gar nicht mehr, um nach Essensmarken zu fragen, selbst wenn sie ein Anrecht darauf haben, denn die Wohlfahrtskultur hat sich verändert«, beschrieb der damalige New Yorker Wohlfahrtskommissar Jason Turner den von ihm erreichten Paradigmenwechsel. Zuvor hatte er im Bundesstaat Wisconsin noch härter durchgegriffen, indem er jeden als arbeitsfähig eingestuften Antragsteller von der Sozialhilfe ausschloss.

Wisconsin ist der Partnerstaat Hessens, dessen Ministerpräsident Roland Koch (CDU) dafür plädiert, Teile des Wisconsin-Modells in Deutschland einzuführen. Bundesweit hat die Politik der Einschüchterung in den USA dazu geführt, dass bereits vier Jahre nach Einführung der Reform nur noch 50 statt 80 Prozent der TANF-berechtigten Familien an dem Programm teilnahmen.

»Seit 1997 ist die Zahl der Sozialfälle in den USA in jedem Jahr gesunken«, beschreibt das Zentrum für Recht und Sozialpolitik (CLASP) in einer aktuellen Untersuchung von 49 Bundesstaaten diese Entwicklung. Shawn Fremstad vom Zentrum für Politik und Haushaltsfragen (CBPP), einer weiteren Non-Profit-Organisation aus der US-Hauptstadt, hält nicht nur die Streichung sozialer Leistungen bei gleichzeitiger Zunahme der Armut für bedenklich, sondern auch die Einstellung des Gesundheits- und Sozialministeriums, das den Rückgang an Wohlfahrt als »ermutigend« einstufte. Derzeit leben in den USA 34,6 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, fast die Hälfte von ihnen sind Kinder. Die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, ist 2002 um 700 000 auf 14,1 Millionen gestiegen.

Konservativen Beobachtern zufolge hängt die Zunahme der Armut jedoch einzig mit dem Ende des wirtschaftlichen Aufschwungs von 2001 zusammen: »Laut Volkszählung ist die Kinderarmut von 1996 bis 2001 jedes Jahr gesunken«, sagt der konservative Sozialwissenschaftler Ron Haskins, der bis 2002 Wohlfahrtsberater von Präsident Bush war, in seinem Washingtoner Büro in der Forschungseinrichtung Brookings. Doch in der gegenwärtigen Rezession sei der Anstieg der Kinderarmut weit geringer als in vorhergehenden Rezessionen.

Kritiker weisen allerdings darauf hin, dass die rein nach dem Einkommen berechnete Armutsquote kein guter Gradmesser für die Leistungen des Sozialsystems ist. So leben in den USA 41 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung, oft weil sie selbst für Niedrigverdiener zu teuer ist. Scheidet eine Familie aus dem TANF aus, kann oft selbst ein 40prozentiger Lohnzuwachs den Verlust der Krankenversicherung nicht kompensieren.

Republikaner wie Haskins hingegen geben sich mit den Ergebnissen der Welfare-Reform zufrieden: »Die Hälfte derer, die die Sozialhilfe verlassen, haben einen Job und verdienen rund 7,50 Dollar pro Stunde. Wir haben bewiesen, dass sich die Menschen mit Niedriglohnjobs wirtschaftlich verbessern können.«