Die Deutschland-Aktionäre

Wie die deutschen Unternehmerverbände die Politik bestimmen. von hermann werle

Globalisierung hin, Entflechtung her – die Deutschland AG lebt«, schreibt das Manager-Magazin und stellt fest: »Das Old Boys’ Network funktioniert wie eh und je. Ein Kreis einflussreicher Männer – sorry, no ladies – dominiert die deutsche Wirtschaft.«

Nicht ganz falsch, möchte man dem Magazin beipflichten, welches über diverse offizielle und private Treffen zu berichten weiß. Da feiert der Kanzler Geburtstage mit eben jenen einflussreichen Männern oder drischt Karten im Luftwaffen-Airbus mit dem Vorstandsvorsitzenden der Siemens AG, Heinrich von Pierer, »Rotwein und Cohibas stets in Reichweite«. Was allein fehlt an der Darstellung, ist die politische Tragweite dieser Männerkumpanei.

Die Deutschland AG

Mit dem Begriff Deutschland AG wird die deutsche Version des Kapitalismus nach 1945 bezeichnet. Um den inneren Frieden der Bundesrepublik zu gewährleisten, wurde unter Einbeziehung der Gewerkschaften ein System geschaffen, welches die wirtschaftliche Machtkonzentration einschränken sollte. Durch Aktienbesitz oder Eigentum konnten Bund, Länder und Kommunen direkten Einfluss auf den Beschäftigungsstand nehmen und die Grundversorgung in Bereichen wie Energie, Transport und Telekommunikation für große Teile der Bevölkerung sicherstellen. Die enge Verflechtung zwischen der Politik, den Banken und den Unternehmen bildete das Fundament der sozialen Marktwirtschaft, deren sozialstaatliches Sicherungssystem der Sphäre der kapitalistischen Verwertung bislang entzogen war.

In diesem Sinne war das Wirtschaftssystem gesellschaftlichen Interessen verpflichtet. Den Unternehmen ging es dabei nicht schlecht; staatliche Subventionen, geringe Konkurrenz und die relative Abschottung des nationalen Wirtschaftsraums garantierten über lange Zeit satte Gewinne. Zudem waren »feindliche Übernahmen« aufgrund des geringen Streubesitzes, der politischen Kontrolle und des großen Einflusses der Finanzinstitute – insbesondere Deutsche Bank und Allianz – ausgeschlossen.

Beispielsweise im strategisch wichtigen Bereich Energie wird sich das auch nicht ändern. Gerne würden ausländische Konzerne im Prozess der wirtschaftlichen Konzentration größere Häppchen der deutschen Unternehmenslandschaft schlucken. Konzerne wie RWE, Eon/ Ruhrgas oder Thyssen-Krupp wurden aber mit politischer Unterstützung zu Megakonzernen aufgebaut, um Deutschlands Rolle als politisch-ökonomische Großmacht zu stärken. Zuletzt bewirkte eine Ministerentscheidung die Fusion von Eon und Ruhrgas.

Die von den Industrieverbänden beklagte angeblich zu schwache Investitionstätigkeit ausländischen Kapitals ist im Wesentlichen auf diese Abschirmung nach außen zurückzuführen und nicht auf zu hohe Steuer- oder Lohnkosten, wie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und so genannte Wirtschaftsexperten immer wieder glauben machen wollen. Solche Klagen im Interesse ihrer Klientel zu verbreiten, gehört zu den Kernaufgaben des BDI.

BDI und BDA

Ob Standortdebatte oder Green Card, ob Ökosteuer, EU-Erweiterung oder Privatisierung, keines der Themen und keine der richtungsweisenden politischen Entscheidungen der vergangenen Jahre ist ohne maßgebliche Einflussnahme des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) oder der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) debattiert und schließlich in ihrem Sinne entschieden worden. Beinahe täglich werden Dieter Hundt (BDA) oder Michael Rogowski (BDI) in den Medien zitiert. Die Präsidenten und die ranghohen Mitglieder der bedeutendsten Verbände der deutschen Industrie gehören zu den einflussreichsten Personen der Bundesrepublik Deutschland.

Als Ausgangspunkt der aktuellen Debatten um Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist die maßgeblich vom BDI und seinem Think Tank, dem Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), initiierte Diskussion um den »Standort Bundesrepublik« anzusehen. Seit 1986 wird jeder Eingriff in das soziale Sicherungssystem, jeder Angriff auf die Löhne und jede Steuererleichterung für Unternehmen mit der angeblichen Standortschwäche der Bundesrepublik legitimiert. Nicht die Bedürfnisse der lohnabhängigen Bevölkerung sollen den Maßstab sozialer Sicherung bilden, sondern allein das, was die Wirtschaft zu zahlen bereit ist.

Man könnte einwenden: So ist das doch schon immer gewesen! Die anstehenden »Reformen« der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zeigen allerdings, dass sich ein durch die Arbeitgeber- und Unternehmensverbände angetriebener Strukturwandel vollzieht, der viele bisher als selbstverständlich geltende soziale Standards für die Bundesrepublik grundsätzlich in Frage stellt. Ein Zwang zur Arbeit unter schlechtesten Bedingungen bei gleichzeitig wachsender Armut in großen Teilen der Bevölkerung wird sich mit der Verwirklichung der Entwürfe ebenso manifestieren wie die stark eingeschränkte Funktion der Gewerkschaften. Der im Sommer gescheiterte Streik der IG Metall wird vom BDA-Präsidenten Dieter Hundt medienwirksam genutzt, um das Recht auf Streik grundsätzlich in Frage zu stellen. Damit sollen die Gewerkschaften, ihres wirkungsvollsten Kampfmittels beraubt, dauerhaft an die kurze Leine genommen werden und zu Bettelvereinen verkommen.

Der Stärkste gewinnt

Der aktuelle Angriff auf die Gewerkschaften und die Lohnabhängigen fügt sich nahtlos in einen Propagandafeldzug der Industrielobby ein. Dafür wurde vor drei Jahren eigens die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) ins Leben gerufen. Finanziert wird sie von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie, die bis Ende 2004 rund 50 Millionen Euro in das Projekt investieren wollen.

Die Koordination liegt bei der Berolino PR-Gesellschaft, die dem Institut der Deutschen Wirtschaft angegliedert ist und vom früheren Pressesprecher des BDI, Dieter Rath, geleitet wird. Berolino und diverse PR-Agenturen verbreiten ihre Botschaften auf Plakatwänden und in ganzseitigen Anzeigen: »So viel Sozialstaat ist unsozial«, sagt dort Altbundespräsident Roman Herzog; der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth fordert: »Mehr Mut zur Ungleichheit!«

Wo immer es geht, werden von Wissenschaftlern, Politikern und Managern mit Hilfe zahlreicher Medien derlei Statements in die Öffentlichkeit kolportiert. Für ntv, N24, aber auch den Hessischen Rundfunk und die ARD scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, den von den Verbänden propagierten Sozialdarwinismus zu verbreiten. Einen Dreiteiler über die »Märchen der Sozialpolitik« und den »Reformstau« in Deutschland strahlten die öffentlich-rechtlichen Anstalten schon mehrmals in diesem Jahr aus. Die Videorechte der Sendungen liegen bei der Berolino, die die Produktion erst ermöglichte. Ihr Produzent Günter Ederer ist »der Mann, der uns aus dem Herzen spricht«, bemerkte Dieter Rath nach Angaben des Evangelischen Pressedienstes (epd). Über die Fernsehbildschirme der Nation lief dementsprechend die pure Verbandspropaganda inklusive eines Hinweises im Abspann, wie man per E-Mail Kontakt zu den Initiatoren aufnehmen kann.

Der epd, der die Hintergründe dieser unseligen Verquickung öffentlich machte, resümiert: »Man sieht: Der Medienverbund der Arbeitgeberverbände funktioniert bestens. Nur die öffentlich-rechtliche Programmautonomie kommt dabei unter die Räder. Wo sind sie noch, die viel beschworenen qualitativen Unterschiede zum werbefinanzierten Fernsehen?«

Neben dem BDI, der BDA, Mitgliedern aus der Union, der FDP und der Grünen sowie dem Rechtsaußen Arnulf Baring – der kürzlich erst in der FAZ gegen den gewerkschaftlichen Einfluss im Parlament wetterte und mit dem Slogan »Bürger, auf die Barrikaden!« einen Aufstand von rechts forderte – betätigen sich auch Sozialdemokraten in der INSM. Bis vor kurzem war der »Superminister« Wolfgang Clement für die Initiative aktiv, bis heute ist es Florian Gerster, der Leiter der Bundesanstalt für Arbeit. Er brachte im Frühjahr die Substanz der propagierten »Neuen Sozialen Marktwirtschaft« im Gespräch mit der Berliner Zeitung auf den Punkt: »Der Sozialpolitiker fragt, was braucht der in Not geratene Mensch? Dann definiert er Standards, die finanziert werden müssen. In einem hoch entwickelten Sozialstaat mit gravierenden Strukturproblemen wie dem unsrigen muss die Frage umgedreht werden: Wie viel Sozialstaat kann sich die Gesellschaft leisten?«

Wie damals

In ihrer Propaganda sind Gerster und seine neoliberalen Kollegen und Kolleginnen der INSM nicht sonderlich originell, übernehmen sie doch im Kern die gleichen Positionen, wie sie die Industrieverbände auch schon vor 80 Jahren formulierten: »Wie jede Politik ist auch die Sozialpolitik nur eine Politik des Möglichen, des Durchführbaren, des Tragbaren. Nicht allein der Gedanke, dass etwas ›gut‹ oder ›wünschenswert‹ ist, kann die Sozialpolitik bestimmen, sondern dazu muss die Gewissheit kommen, dass die zu treffende Maßnahme mit den vorhandenen Mitteln durchführbar ist und dass sie nicht andere, ebenso wichtige Volksglieder zum Schaden des Ganzen ungebührlich benachteiligt.« Diese Worte des Konzernbarons August Paul Ernst von Borsig, der seinerzeit Vorsitzender der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände war, wurden 1924 in der Schriftenreihe des Reichsverbands der Deutschen Industrie publiziert.

Im selben Haus wurden im Dezember 1929 vor dem Hintergrund der Krisenerscheinungen der kapitalistischen Welt die Forderungen der Industrie schon wesentlich forscher formuliert: »Die Sozialversicherung soll die wirklich Schutzbedürftigen und Notleidenden betreuen, eine unberechtigte, die Volksmoral schädigende Ausnutzung ihrer Einrichtungen aber verhindern.« Und zur Steuerpolitik hieß es: »Der Umbau der Finanzwirtschaft hat nach zwei Gesichtspunkten zu erfolgen: a) wesentliche Senkung der öffentlichen Ausgaben und Steuern, b) Beschaffung der Mittel, stärker als bisher, durch indirekte Besteuerung.« Wer dächte da nicht an die rot-grüne Steuerpolitik, die von Kanzler Schröder platzierte Faulenzerdebatte oder seine Agenda-2010-Rede am 14. März dieses Jahres: »Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.«

Ein historischer Vergleich hinkt zweifelsohne an vielen Stellen, deutlich ist jedoch, dass sich an den Haupttendenzen in der Auseinandersetzung nicht viel ändert. Wie heute konnten die Verbände als stärkste Interessenvertretungen der großen Konzerne Mitte der zwanziger Jahre angesichts kapitalistischer Krisenerscheinungen und steigender Arbeitslosenzahlen eine Offensive gegen die Interessen der Lohnabhängigen starten. Damals geschah das in einer Phase, in der die Arbeiterklasse auf bedeutende Fortschritte zurückblicken konnte, die sie durch harte Kämpfe und hohen Blutzoll erzielt hatte und die auch den Sozialstaat nach 1945 prägten.

Ein großer Unterschied ist freilich, dass die Sozialdemokratie damals noch nicht die Argumente der Unternehmerverbände übernommen hatte. Schließlich dienten sowohl das Bismarcksche Sozialistengesetz von 1878 als auch die wenige Jahre später erlassenen Gesetze zu den Sozialversicherungen nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche einst der Bekämpfung der Sozialdemokratie. Lang, lang ist’s her. Für die Sozialversicherungen lohnt es sich aber auch heute noch zu kämpfen, und ein Gesetz, welches »gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« vorgeht, wünscht man sich wohl bald wieder.

Geteilte Arbeit

Um die engen Bande zwischen den wirtschaftlichen und den politischen Lenkern der Bundesrepublik besser zu verstehen, lohnt es, die Arbeitsteilung der Verbände und die personellen Verflechtungen zu untersuchen. Die Verbandspolitik der Unternehmen entwickelte sich an spezifischen Interessen. Eine größere Anzahl von Unternehmensverbänden entstand seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Es waren überwiegend lokale Zusammenschlüsse, die sich mit Fragen des Verkehrs und der Tarife für Eisenbahnen und Schiffe beschäftigten. Mit der Gründung des Deutschen Reichs vervielfachte sich die Anzahl der Verbände, die vor allem Schutzzölle im Interesse der einheimischen Wirtschaft anstelle des Freihandels forderten.

Neben Vereinen wie dem der Süddeutschen Baumwollindustriellen oder der Deutschen Eisen- und Stahlindustriellen entstand mit dem Centralverband Deutscher Industrieller 1876 die einflussreichste Interessenvertretung der Industrie, die dem heutigen BDI entspricht. Der Einfluss sowohl des Centralverbands als auch der Vertreter der Landwirtschaft führte zur wirtschaftspolitischen Wende, der Bismarckschen Schutzzollpolitik.

Zwischen 1880 und 1889, als sich die sozialen Kämpfe verschärften und das Sozialistengesetz durchgesetzt wurde, entstanden 25 Arbeitgeberverbände als Kampforganisationen der Unternehmer gegen die Gewerkschaften. 1913 fusionierten diese Verbände zur Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (VDA), der Vorläuferorganisation der heutigen BDA.

An der Aufgabenteilung zwischen BDI und BDA hat sich bis heute nicht viel geändert. Während der BDI als Wirtschaftsverband und Lobby der Industrie in erster Linie auf die Politik und die Öffentlichkeit einwirkt, sind die Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften und die gegenseitige finanzielle Unterstützung bei Streiks sowie die Koordinierung bei Aussperrungen Haupttätigkeiten der BDA.

Lobby der Großkonzerne

Diese grundsätzliche Aufgabenverteilung der Verbände darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Grundsatzfragen eine enge Abstimmung und Zusammenarbeit gibt. In der Breiten Straße 21–29 im Berliner Stadtteil Mitte haben BDI, BDA und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag mit dem »Haus der Wirtschaft« seit November 1999 eine gemeinsame Adresse. Von dort aus solle »ein neues Kapitel der Interessenvertretung für die deutsche Wirtschaft« geschrieben werden, »deren Gemeinschaft nun auch unter einem gemeinsamen Dach seinen Ausdruck findet«, wie Dieter Hundt bei der Einweihung vermerkte.

Rund 75 Prozent der deutschen Unternehmen sind über ihre jeweiligen Branchen- oder Fachverbände im BDI oder in der BDA organisiert. Beide Dachverbände verfügen über diverse Fachbereiche und Ausschüsse sowie über Vertretungen in 15 Bundesländern. Dadurch ist ihr Einfluss auf der Ebene der Kommunen und der Länder, aber auch auf die deutsche Außenpolitik gesichert.

Wenngleich die Mehrzahl der organisierten Unternehmen kleine und mittelständische Betriebe sind, dominieren die transnationalen Konzerne die Verbändepolitik. Das Präsidium und der Vorstand des BDI gleichen einem Who’s who der deutschen Konzernchefs. Dort finden sich unter anderem Ekkehard Schulz (Thyssen Krupp AG), Burckhard Bergmann (Eon/Ruhrgas), Ulrich Hartmann (Eon AG), Harry Roels (RWE AG), Jürgen Schrempp (Daimler-Chrysler), Heinrich von Pierer (Siemens AG), Ludolf von Wartenberg (Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie und ehemaliger Staatssekretär) sowie der frühere Wirtschaftsminister Werner Müller (RAG Aktiengesellschaft).

Auffallend sind auch die personellen Verflechtungen mit der politischen Sphäre, die mit dem Begriff der Deutschland AG umschrieben wird und zu deren »Vorstandsvorsitzendem« sich Gerhard Schröder ernannte. Gemeinsam mit Minister Clement berief er im Juli dieses Jahres drei Wirtschaftsführer der Deutschland AG in seinen engen Beraterstab: Klaus Mangold (Daimler-Chrysler, Leiter des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft im BDI), Heinrich von Pierer (Siemens) und Jürgen Weber (Lufthansa AG) bekleiden seither die Ämter der Beauftragten für Auslandsinvestitionen in Deutschland.

Der Text erschien zuerst im MieterEcho

Nr. 300, Oktober 2003.