Affront zum Abschied

Ein Richtungsschwenk der britischen Regierung bringt die Übernahme des Sfor-Oberkommandos durch die EU in greifbare Nähe. von markus bickel, sarajevo

Fast zur gleichen Zeit, als im fernen Bagdad George W. Bush US-Soldaten Truthahn servierte, nahmen in Sarajevo zwei britische Lords Thanksgiving ganz für sich in Beschlag. Nato-Generalsekretär George Robertson und der Hohe Repräsentant der Bosnien-Protektoratsbehörde, Paddy Ashdown, hatten nach Treffen mit der einheimischen Führung zur Pressekonferenz geladen, doch statt festlicher Worte verbreiteten die hohen Herren Katerstimmung. »Man hat nicht den Eindruck, dass Bosnien die Nato wirklich ernst nimmt«, schimpfte Lord Ashdown. Und sein adliger Exparlamentskollege aus Westminster Hall bezichtigte die örtlichen Politiker glatt der »Schizophrenie«: Bosnien sei »das einzige Land der Welt, in dem es zwei Verteidigungsminister gibt«.

Nur Stunden vor der Ankunft Robertsons hatte die Mehrheit der bosnisch-serbischen Abgeordneten kurzerhand beschlossen, die letzte parlamentarische Beratung des neuen Verteidigungsgesetzes zu boykottieren. Ein Affront zum Abschied: Eigentlich war Robertson, der scheidende Generalsekretär der »weltweit größten existierenden Koalition«, nach Sarajevo gekommen, um der nationalistischen Koalitionsregierung zu ihren Fortschritten bei der Zusammenlegung der acht Jahre nach Kriegsende weiter getrennt operierenden Armeen zu gratulieren – der Voraussetzung für die Aufnahme ins Nato-Programm »Partnership for Peace«. Stattdessen ging die britische Thanksgiving-Inszenierung ziemlich in die Hose. Er hoffe nur, so Ashdown, »dass der heute angerichtete Schaden nicht tödlich« sei und Bosniens Beitritt ins transatlantische Bündnis auf Jahre verschiebe.

Auf den Magen geschlagen haben dürfte der kleine Aufstand gegen den ungeliebten Protektoratsherrn von der Insel aber auch Großbritanniens Verteidigungsminister Geoff Hoon. Der hatte keine zehn Tage zuvor einen für den Aufbau einer autonomen EU-Streitmacht entscheidenden Richtungswechsel vollzogen – mit unmittelbaren Auswirkungen auf das derzeitige Nato-Operationsgebiet Bosnien. So zog Hoon bei einer Tagung der EU-Verteidigungsminister das britische Veto gegen die Übernahme der Nato-Schutztruppe Sfor durch einen EU-General zurück, ein Projekt, das bislang vor allem von Frankreich und Deutschland vorangetrieben wurde.

»Das Vereinigte Königreich wäre gerne bereit, eine solche Operation anzuführen«, verkündete Hoon seinen Kollegen frohen Mutes. Voraussetzung sei allerdings eine enge Zusammenarbeit des EU-Kommandos mit der Nato – und die Unterstützung der bosnischen Behörden für die erste EU-Militäroperation von nennenswertem personellen Umfang. Brauchbare bosnische Hilfe scheint nach dem Rückzieher Banja Lukas bei der Armeereform jedoch ungewisser denn je. Gut möglich also, dass man den Richtungsschwenk Hoons in London noch bereuen wird.

Bis zuletzt hatten die USA versucht, das im Dezember 2002 auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen beschlossene Ziel eines EU-Oberkommandierenden an der Spitze von Sfor zu hintertreiben – mit vollem Rückhalt der britischen Regierung. Weil sich Tony Blair angesichts anhaltender Kritik an seinem proamerikanischen Kurs Frankreich und Deutschland in letzter Zeit jedoch wieder spürbar angenähert hat, könnte es nun doch noch klappen mit dem ehrgeizigen Antrittsdatum 2004. Vor allem der beharrlichen Lobbyarbeit Ashdowns und Robertsons dürfte es zu verdanken sein, dass man sich in der Bush-Administration langsam mit der Vorstellung vertraut machte, US-Truppen von einem europäischen General befehligen zu lassen.

Der Kompromissvorschlag von Verteidigungsminister Hoon Mitte November gab dann wohl den Ausschlag für das Einlenken Washingtons. Mit einem britischen Sfor-General kann man in Weißem Haus und Pentagon offenbar leben. Schließlich teilt man gemeinsam mit London das Misstrauen gegenüber den deutsch-französischen Militärambitionen. Bei der Nato-Verteidigungsministertagung am Montag in Brüssel dürfte deshalb nicht zuletzt die Größe der dritten eigenständigen EU-Operation nach den Missionen »Concordia« in Mazedonien und »Artemis« im Kongo eine Rolle gespielt haben. »Wir rechnen damit, dass die Truppenstärke von Sfor Mitte 2004 auf 7 000 bis 8 000 Mann reduziert wird«, erklärte ein Nato-Diplomat im Vorfeld des Treffens. Zur Zeit sind 12 000 Sfor-Soldaten im Einsatz, 50 000 weniger als zu Beginn der Nato-Mission Ende 1995.

Während im Berliner Verteidigungsministerium vor der Brüsseler Nato-Sitzung niemand über die bevorstehende bislang größte EU-Peacekeeping-Operation sprechen wollte – »Wir haben natürlich Ziele, aber die diskutieren wir nicht öffentlich«, sagte man der Jungle World –, herrscht bei den Kollegen des Nicht-Nato-Staates Österreich bereits große Aufregung. Rund hundert Mann will Wien ab kommenden Sommer nach Bosnien schicken, heute sind es gerade einmal vier. Die Einsatzvorbereitungen laufen schon lange vor der endgültigen Entscheidung auf Hochtouren – ein Zeichen dafür, dass die EU-Aussenpolitiker ihre Rechnung diesmal nicht wie im Frühjahr ohne die US-Administration gemacht haben.

Solltes es mit dem Wechsel an der Sfor-Spitze wirklich klappen, hätte die EU innerhalb eines Jahres gegenüber den USA zumindest optisch aufgeholt. Zwar ist der Euro-Block auf militärtechnologischem Gebiet immer noch weit unterlegen. Doch nach dem Auslaufen des in Nato-Kreisen als »Micky-Maus-Mission« verspotteten Mazedonien-Einsatzes in zwei Wochen wäre die Übernahme des Kommandos in Bosnien mit erheblichem Imagegewinn verbunden. Denn noch immer schauen EU-Generäle mit Neid auf die jährlich steigenden US-Verteidigungsetats.

Von Anfang an hatten die EU-Spitzenpolitiker die 300-Mann-Operation »Concordia« in Mazedonien nur als Testfall für höhere Aufgaben betrachtet. Jetzt wird die erste autonome Militäroperation sogar aufgelöst. Nach Vorbild der EU-Polizeimission EUPM in Bosnien sollen stattdessen künftig 250 EU-Polizisten ihren mazedonischen Kollegen bei der Arbeit über die Schulter schauen. Ein Scheitern des ersten Einsatzes unter dem Dach der EU-Verteidigungs- und Sicherheitspolitik (ESVP)? »Es geht nicht darum, immer gleich den großen Knüppel herauszuholen. Manchmal reicht auch ein kleiner Knüppel oder nur ein Zahnstocher«, lautet die verklausulierte, wenig diplomatische Antwort, die die Jungle World im Kanzleramt erhielt.

Bereits kurz nach Ende des Kosovo-Krieges im Sommer 1999 beschlossen die EU-Staats- und Regierungschefs den Aufbau einer 60 000 Mann starken Schnellen Eingreiftruppe, die eigentlich bis Ende dieses Jahres einsatzfähig sein sollte. Das Bosnien-Kommando ist dafür zwar nur ein schwacher Ersatz, doch angesichts der britischen Annäherung an die deutsch-französische Position könnte vor Jahresende vielleicht doch noch ein weiteres militärisches Statussymbol herausspringen: Toppthema beim Treffen der Nato-Verteidigungsminister in Brüssel ebenso wie auf der EU-Außenministersitzung am Wochenende in Neapel war die Einrichtung einer unabhängig von der Nato agierenden EU-Kommandozentrale.