Die Mordlust der Möwe

Klaus Theweleit untersucht, wie das Kino auf die Deutschen sieht. von jan süselbeck

Allemagne Neuf Zero« heißt der Film von Jean-Luc Godard, in dem Eddie Constantine einen Koffer durch die soeben untergegangene DDR trägt. In einer Einstellung steht er einer Windmühle, dem berittenen, leibhaftigen Don Quijote und einem müden Trabbi gegenüber und fragt: »Which is the way West?«

27. Januar 1990: »Dann fiel mir ein, dass heute ja Mozarts Geburtstag war«, sagt Constantine kurz darauf lakonisch aus dem Off, während im Bild streunende Hunde über menschenverlassene Osthalden laufen, »blühende Landschaften« also.

Eine gedankliche »Zeitkompresse« nennt Klaus Theweleit diese für Godard so paradigmatische Szene in seinem neuen Buch »Deutschlandfilme«.

»Aber: 27. Januar? Da ist doch noch etwas«, erinnert uns Theweleit. »Ja, die Rote Armee erreicht Auschwitz und befreit die darin noch lebenden 7 000 Häftlinge, 27. Januar 1945, im Jahre Null.«

Die Erinnerung an Auschwitz: Sie versteckt sich gerade auch dort, wo sie dem Land der Dichter und Denker am allerwenigsten passt – auf Goethes Weimarer Ettersberg, wo man das KZ Buchenwald errichtete, oder in Mozarts Geburtsdatum. »Es bin nicht ich, der traurig ist«, verteidigte sich Godard 1990 in Cannes, »Deutschland ist ein Land, das zweieinhalb mal so traurig ist, trist. Sie sind sozusagen vom Horror so geschlagen, dass sie verloren sind; sie sind diskreditiert.«

Mehrfach geschichteten Zeitbildern, wie er sie bei Godard findet, ist Theweleit in der Kunst nun schon länger auf der Spur. »Der Literatur blieben solche Schichtungs-Verfahren geläufiger, ob bei Joyce, bei Arno Schmidt oder Thomas Pynchon«, erinnert er hier in einem beiläufigen Nebensatz. Bereits 1999 hatte Theweleit im Rahmen seines Pocahontas-Projekts ein ganzes Buch über den frühen Schmidt der fünfziger Jahre geschrieben, in dem das Freischwimmen der Sexualität aus der verordneten Todeslust der Nazigeneration mittels solcher »mehrfach belichteter« literarischer Zeitbilder im Zentrum der Betrachtung stand.

Diesmal stellt Theweleit Filme über Deutschland vor. Dazu gehören auch solche, die die aggressive Gewalt, die von diesem Land ausging, eher subtextuell inszenieren. Die deutsche Bombardierung Londons etwa erkennt Theweleit in einer berühmten Szene aus Alfred Hitchcocks Film »Die Vögel« wieder. Aus der Perspektive herabstürzender Möwen blickt der Zuschauer auf den kalifornischen Küstenort Bodega Bay hinab, wo bereits eine Tankstelle brennt und die Menschen in Panik umherrennen. »So zeigt Hitchcock Krieg, ohne Krieg inszeniert und gefilmt zu haben, ruft er den Affekt, den herabstoßende Flugzeuge auslösen, sowohl bei denen hervor, die diesen Moment ›erlebt‹ haben, als auch bei denen, die nie in einer Stadt das Ziel von Bombardierungen waren«, analysiert Theweleit. Das ist das »Filmdenken«, von dem er schon im Untertitel seines Buches spricht, der cineastische »Start bestimmter Hirnschaltungen, die von den Montagen des Films angeworfen werden und sich nach seinem Ende auf die Außenwelt richten«.

Theweleit setzt sich deutlicher denn je von Adornos Frankfurter Schule ab und unterstreicht seine kritische Berufung auf den französischen Strukturalismus. Geradezu hymnisch feiert er die feministische Filmkritikerin Frieda Grafe, die die zentrale Funktion der Farbe in Filmen wie denen des großen Hollywood-Vorbilds Rainer Werner Faßbinders, Douglas Sirk, wohl als erste erkannte. Eine Perspektive, die Theweleit nun abermals heranzieht, um Hitchcocks gemeinhin als »missglückt« und »antikommunistisch« diffamierten DDR-Thriller »Der zerrissene Vorhang« (USA 1966) begeistert in Erinnerung zu rufen.

Grafe und ihre Ende der sechziger Jahre in der Zeitschrift Filmkritik veröffentlichten Texte scheinen für Theweleit befreiende Initiationserlebnisse gewesen zu sein; Rock’n’Roll gegen den konservativen Muff, den er auch in der Frankfurter Schule witterte. »Beckett war ein Gott, Charlie Parker und Hitchcock Barbaren – was für eingebildete Irre. Chaplin bekam mal ein paar gnädige Worte. Größere Teile des deutschen Intellektuellen-Wesens dümpeln im Grunde noch heute oder heute wieder in diesen Bahnen.«

Bemerkenswert ist Theweleits dicht beschreibende analytische Annäherung an Pier Paolo Pasolinis letzten Film »Saló oder die 120 Tage von Sodom«. »Hinter den Taten der faschistischen Vernichter der europäischen Juden wie auch der deutschen Arbeiterbewegung glaubte ich eine historische Universalie zu sehen«, erläutert Theweleit sein stark auf die soziophilosophischen Diskursanalysen Michel Foucaults verweisendes Theorem. Auch Pasolinis Film erscheint ihm aus dieser Perspektive als Kommentar »zur gesellschaftsgenerierenden Kraft bestimmter Körperstrukturen, die auf institutionalisierte Weisen (Schulen, Sport, Fabriken, Gefängnisse, Militär etc.) in den einzelnen Körpern erzeugt worden sind und – heute modifiziert durch diverse neue Technologien – weiter erzeugt werden«. Auch bei Pasolini steht dieser Aspekt aus seiner Sicht im Zentrum der de-Sade-Verfilmung, die mit dem Namen »Saló« den expliziten modernen Bezug zur faschistischen Enklave am italienischen Gardasee herstellt, wo Benito Mussolini nach 1943 seine letzten beiden Jahre unter dem Schutz der deutschen NS-Besatzung zubrachte.

Hieran schließt Theweleit nicht nur eine genauere Lektüre der von Pasolini wortgetreu benutzten Primärtexte des Marquis de Sade an, sondern auch eine neuerliche Polemik gegen die zweite Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die nach Meinung Theweleits in die Falle der »Seriosität« gegangen sei. Ihm geht es dagegen um die bewusst »unseriöse« Betonung der Lustmomente, die die folternden SS-Täter antrieb: »›Seriosität‹ in diesen Zusammenhängen heißt nur, sich den Selbstschutzmechanismen der Killer-Kasten zu unterwerfen«, dekretiert Theweleit. Weiter kritisiert Theweleit, Jan Philipp Reemtsma habe ihm den Anspruch auf universelle Gültigkeit und Anwendbarkeit seiner Ergebnisse der »Männerphantasien« auf andere Folter-Lust-Vorgänge in der Welt abgesprochen: »Er wollte sie auf die deutschen soldatischen Männer der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre eingeschränkt sehen.« Theweleit reagiert auf diese Kritik mit einem ausgreifenden Referat über markerschütternde Foltergräuel aus aller Welt, zurück bis zu den bizarren Hinrichtungsritualen der Mayas, die gleichzeitig die schaurige Hintergrundmusik für eine stimmige Analyse des Pasolini-Filmes liefern sollen.

Theweleits selbstbewusster Anspruch, in der Foltergeschichte alles mit allem vergleichen zu können, führt jedoch zu Formulierungen, die über ihr Ziel hinausschießen. So wird der »Saló«-Film zum »Dokument aus der Realität der performierenden Folter, dem Zentralvergnügen der Herrschaftsschweine von Sodom bis zur SS, von gewissen Renaissancemenschen zur modernen europäischen Bourgeoisie, von Trujillo zu Pinochet, von den Feudalklerikalen zu Saddam Hussein. Donald Rumsfelds pathologisches Dauergrinsen lasse ich mal unkommentiert.«

Trotz dieser polemischen Entgleisungen, die gerade auch Adorno in der blickverengenden Schärfe, mit der Theweleit sie vorträgt, nicht verdient hat, ist »Deutschlandfilme« ein Buch voller inspirierender Beobachtungen und scharfsinniger Analysen. Der öfter zu hörende Vorwurf von Skeptikern, Theweleit verknüpfe gerne assoziativ alles mit allem und nerve seine Leser mit den verstiegensten, zufällig ergoogelten Sinnverknüpfungen zu Tode, trifft hier nicht.

Im Vergleich zu den beiden Pocahontas-Bänden, die riesenhaften Literatur-Steinbrüchen gleichen, ist »Deutschlandfilme« durchaus konzentrierter in der genauen Beobachtung der Filmsprache, ja auf seine Weise fast schon ›textimmanent‹ zu nennen. Und für Filmfreaks ist dieses Buch ohnehin ein Muss.

Klaus Theweleit: Deutschlandfilme. Filmdenken & Gewalt. Godard. Hitchcock. Pasolini. Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/Main und Basel 2003. 296 S., 24 Euro