Krise, Klasse, Kapital

Überlegungen zum Modell Deutschland, zur Volksgemeinschaft und zum Klassenkampf. von felix baum

Das Modell Deutschland, das gegenwärtig generalüberholt wird, reicht bis ins vorletzte Jahrhundert zurück. Der Staat schwingt sich zum modernen Gesellschaftsplaner auf, unter dessen Fuchtel sich Bourgeoisie und kapitalistische Produktionsweise überhaupt erst entwickeln. Der sozialen Frage gilt von Anfang an seine besondere Aufmerksamkeit. In einer Mischung aus taktischer Befriedung der Sozialdemokratie, die zumindest in ihrer Rhetorik noch revolutionär ist, Bewirtschaftung der Arbeitskräfte und ideologischer Abgrenzung vom Manchester-Kapitalismus legt der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck die Fundamente des heutigen Sozialstaates. Am Ende des 19. Jahrhunderts gilt Deutschland in Sachen Sozialpolitik als international führend. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zählt der soziale Frieden zu seinen stärksten Trumpfkarten im Standortwettbewerb. Heute verteidigen Linke und Gewerkschaften den Sozialstaat als Errungenschaft der Arbeiterbewegung.

Das Kapitalverhältnis vorausgesetzt, sind Kündigungsschutz, Zahnersatz und eine gesicherte Rente selbstverständlich besser als ständige Existenzangst, ein klappriges Gebiss und Altersarmut. Nur war diese Voraussetzung nicht immer so selbstverständlich, wie sie heute scheinen mag und daher zurückprojiziert wird. Im Reformismus von Sozialdemokratie und Gewerkschaften haben sich die Bewegungen des Proletariats nicht erschöpft. Makabrerweise verhilft erst 1914 dem sozialdemokratischen Modell zum Durchbruch: Als Dank für die Beteiligung am imperialistischen Krieg wie als Barriere gegen die revolutionären Tendenzen 1918 ff. folgt die Anerkennung der Arbeiterbewegung als politisches Subjekt. Auf den Leichenbergen des Krieges und der niedergeschlagenen Aufstände 1918 bis 1923 erlebt die deutsche Sozialdemokratie eine erste Blütezeit.

Dieser sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Reformismus war kein Verrat am Proletariat, insoweit dieses sich als produktive Arbeitskraft affirmierte, anstatt, wie Marx gehofft hatte, mit seiner Selbstaufhebung die kapitalistische Produktionsweise zu zerstören. Und dieser Reformismus war in dem Maße nicht einfach falsches Bewusstsein, wie die Expansion des Kapitals tatsächlich die Möglichkeit bereithielt, die Lage der arbeitenden Klasse zu verbessern.

Mit der Verdrängung der autonomen Klassenziele zugunsten des Einbaus in die bürgerliche Gesellschaft hatte der Reformismus die Arbeiterklasse jedoch vollkommen an das Schicksal des Kapitals gekoppelt. Die Krise von 1929 beendete schlagartig die Zeit der Sozialreform und setzte die Volksgemeinschaft unter Führung des autoritären Staates auf die Tagesordnung.

Dieses Programm war gleichzeitig der etatistischen Ideologie der Arbeiterbewegung so verwandt, dass der Rätekommunist Willy Huhn polemisch den »Nationalsozialismus als die konsequentere Sozialdemokratie« bezeichnete. Als der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund seine Mitglieder aufforderte, am 1. Mai 1933 »für die Ehrung der schaffenden Arbeit und für die vollberechtigte Eingliederung der Arbeiterschaft in den Staat sich allerorts an der von der Regierung veranlassten Feier festlich zu beteiligen«, folgte er ebenso sehr seiner ureigensten Ideologie, wie er aus Opportunismus gegenüber den neuen Machthabern handelte. Dass die Arbeiterklasse sich gegen den Antisemitismus relativ gesehen am resistentesten erwies – Avantgarde des Wahns waren die Universitäten, nicht die Fabriken –, ändert nichts an der Massenbasis, die der Nazi-Faschismus vor allem ab 1939 gewann. Die Juden, in deren Vernichtung sich die Volksgemeinschaft realisiert, verkörpern im nationalsozialistischen Antisemitismus den Liberalismus des Bürgertums ebenso wie den Sozialismus der Arbeiter.

Man kommt nicht umhin, die Verwandlung der Klassen in nichts weiter als Tarifparteien zur Kenntnis zu nehmen, durch die sich die postfaschistische deutsche Gesellschaft auszeichnet; im Eifer des Wiederaufbaus wurde die Deutsche Arbeitsfront demokratisch verlängert. Kaum irgendwo war 1968 so sehr bloße Studentenbewegung wie hier, während der erste wilde Generalstreik der Geschichte Frankreich erschütterte, die italienischen Fabriken nicht zur Ruhe kommen wollten und Amerika von Kämpfen des schwarzen Proletariats und einer neuen Generation von Fabrikarbeitern heimgesucht wurde.

Mit Grund blicken Linksradikale hierzulande neidisch auf diese sozialen Auseinandersetzungen, so wie umgekehrt die herrschenden Klassen weltweit immer wieder interessiert das Modell Deutschland begutachten, das sich durch politische Stabilität und weitgehende Ruhe an der Produktionsfront auszeichnet.

Mittlerweile jedoch sind unter Linksradikalen Interpretationen dieser deutschen Misere en vogue, die diese Geschichte vollkommen auf den Kopf stellen. Ivo Bozic etwa (Jungle World, 46/03) hat nicht nur im Gemeinschaftskundeunterricht aufgeschnappt, dass »der Begriff der Klasse eine zulässige Beschreibung der Gesellschaft im aufkommenden Industriezeitalter gewesen sein mag« – damals, als es noch rauchende Schlote, ausgemergelte Proleten und Kapitalisten zum Anfassen gab –, sondern auch gelernt, dass der Klassenbegriff heute »nur zur Personalisierung der Kapitalismuskritik, also zum Antikapitalismus des dummen Kerls« führen könne.

Liest man dann noch jüngste Auslassungen des antideutschen Theoretikers Joachim Bruhn, drängt sich einem geradezu der Eindruck auf, die Wannsee-Konferenz wäre von Arbeiterräten einberufen worden: »Selbst das radikalste Festhalten am Klassencharakter der Gesellschaft vermag weder: auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft im allgemeinen, noch: in Anbetracht der postfaschistischen Gesellschaft der Deutschen im besonderen, zum Funken von Subversion, Revolte oder revolutionärer Emanzipation zu werden und den Verblendungszusammenhang zu sprengen – vielmehr: die Insistenz auf diesem Klassencharakter reproduziert ganz wie von selbst den Antisemitismus der Scheidung von ›raffendem‹ versus ›schaffendem Kapital‹, eine projektive Leistung, zu der es der radikalen Linken eigentlich nicht bedarf, weil die bürgerliche Gesellschaft schon ganz von selbst sie erbringt.« Wie das? Bruhn selbst weist mit Blick auf die Massenvernichtung darauf hin, »was geschehen kann (und was bereits geschehen ist), wenn sich die Ausgebeuteten mit den Herrschenden verbünden, um gegen eine dritte Partei, gegen die Juden, loszuschlagen«. Damit sich die Ausgebeuteten nicht mit den Herrschenden gegen die Juden verbünden, soll vom Klassencharakter der Gesellschaft keine Rede mehr sein? Verstehe das, wer kann.

Ein Debakel ähnlichen Ausmaßes ist der Debatten-Beitrag des BgR Leipzig (Jungle World, 47/03). Das Sündenregister der globalisierungsbewegten Szene noch einmal herunterzuleiern – Antiamerikanismus, Staatsfetischismus, Euro-Patriotismus, Antisemitismus –, ist angesichts des ESF in Paris nicht verkehrt. Nur zielt das BgR darauf ab, das von ihnen als »soziale Frage« bezeichnete Terrain als Minenfeld großräumig abzusperren, die radikale Linke auf ein bisschen Antifa-Politik zu verpflichten und alle »KlassenkämpferInnen« zu denunzieren. Die nämlich wettern gegen »Bonzen, Banken und Konzerne«, sind einem »romantischen Antikapitalismus« verhaftet, und überhaupt bekommt, wer sich auf »die Suche nach einem revolutionären Subjekt« begibt, es »unweigerlich mit rassistischen Subjekten« zu tun.

An der einigermaßen trivialen Erkenntnis festzuhalten, dass nur die kollektive Verweigerung der Arbeitskraft die Verhältnisse zum Tanzen bringen kann, hat mit der »Suche nach einem revolutionären Subjekt« nichts zu tun. Man kann nicht wie das BgR von Kapitalverwertung und allgegenwärtiger Konkurrenz reden, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass diese Konkurrenz nur in einer gemeinsamen Bewegung derer aufgehoben werden kann, die als lebendige Träger der Arbeitskraft zugleich zum Rohstoff der Akkumulation gemacht werden, wie sie in dieser nicht aufgehen. Darauf und auf die Konstituierung der Proletarisierten als »Klasse des Bewusstseins« (Debord) zielt der Begriff des Klassenkampfs, nicht auf die schwielige Arbeiterfaust, die dem schmarotzenden Kapitalisten auf den Zylinder haut. Wer diesen Gedanken mit dem Hinweis auf den grassierenden Rassismus kontern will, begreift Flüchtlinge und Migranten offenbar nicht als Subjekte auf dem Arbeitsmarkt, die sich auch kollektiv gegen ihre besonders heftige Ausbeutung zur Wehr setzen, sondern immer nur paternalistisch als Objekte antirassistischer Politik.

Dass sich aus der Demonstration vom 1. November, auf der 100 000 gegen die Agenda 2010 demonstrierten, etwas Vernünftiges entwickelt, kann bezweifelt werden. Besser als die fünfmal so große Friedensmanifestation vom Februar, die der eigenen Regierung den Rücken gegen die Yankees stärkte, war sie allemal. Es fehlte die grüne Mittelschicht mit ihrem Bekenntnis zu Old Europe; es blieb der Glaube an den Staat, der doch eigentlich könnte, wenn er nur wollte. Auf den Klassenkampf von oben wurde mit Illusionen über den Staat als autonome Verteilungsinstanz geantwortet. Das Modell Deutschland wird unbeschadet durch die Krise kommen, solange der Widerspruch gegen die Verschlechterung der materiellen Lebensverhältnisse den Boden des Gemeinwohls überhaupt nicht verlässt und die Tradition des deutschen Etatismus fortschreibt.

Bis auf weiteres sind radikale Linke auf die Ideologiekritik an derartigem Protest zurückgeworfen. Wie darüber hinaus ohnmächtiger Protest und ebenso ohnmächtige Ideologiekritik praktisch überschritten werden könnten, weiß offenbar derzeit niemand. Solange sich daran nichts ändert, sollte man nicht wie Ingo Stützle großspurig von »sozialen Praxen« schwadronieren (Jungle World, 48/03), wenn man aus lauter Verzweiflung zum kollektiven Schwarzfahren aufruft.