Kalkulierte Katastrophen

In keinem Bereich klappt die Zusammenarbeit in der EU so gut wie in der Flüchtlingspolitik. von danièle weber, luxemburg

Silvio Berlusconi besann sich auf traditionell europäische Werte. Das »christliche und zivilisierte« Europa müsse die Möglichkeit der legalen Zuwanderung verbessern, verkündete der italienische Premierminister und amtierende EU-Ratspräsident Ende Oktober im Europaparlament in Strasbourg. Sein Innenminister Giuseppe Pisanu forderte gar Quoten für die Immigration einiger Auserwählter in die Europäische Union. Doch selbst für eine solch moderate Einwanderungspolitik gibt es derzeit in der EU keine Mehrheit. Weder in den Regierungen noch in den Parlamenten.

Flüchtlingspolitik ist einer der Bereiche, in denen die Politik der Union am deutlichsten Konsequenz zeigt. Der Tod von so vielen Menschen auf der verzweifelten Suche nach einer besseren Zukunft müsse die EU anspornen, besser zusammenzuarbeiten, um gemeinsam solche Katastrophen zu verhindern, hatte der amtierende Ratspräsident Silvio Berlusconi gemahnt.

Wie diese Kooperation künftig optimiert werden kann, hatte tags zuvor sein Innenminister Giuseppe Pisanu mit seinen Kollegen im bretonischen Küstenstädtchen La Baule erörtert. Wieder einmal fiel der Ministerrunde nichts anderes ein, als den Schlüssel am ohnehin bereits verriegelten EU-Portal noch einmal umzudrehen. Zum Schutz gegen illegale Immigration über das Mittelmeer brauchte die EU eine europäische Sicherheitszone, in der verstärkt Küstenwachen patrouillieren. Ein effizientes »Drei-plus-drei«-Projekt, in dem die EU-Staaten Italien, Spanien und Frankreich mit den afrikanischen Ländern Marokko, Algerien und Tunesien zusammenarbeiten, solle künftig dem »Menschenhandel«, so Pisanu, das Handwerk legen.

Nachdem im November wieder von einer Flüchtlingstragödie vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa berichtet wurde, sprach Pisanu von den Dutzenden von Toten, die »auf dem Gewissen der Europäer lasten«. Stimmt nicht, widersprachen einige seiner Kollegen. Auch in Kommentaren wie in denen der Süddeutschen Zeitung wird die Schuldfrage auf andere Weise geklärt: Verantwortlich seien jene Schmuggler-Netzwerke, die geldgierig »Arme, Hoffnungslose, aber auch Ungeduldige in ein gefährliches Abenteuer« und »nach Europa, ins angeblich gelobte Land locken«. Nicht die Verzweiflung, sondern die Propaganda der Fluchthelfer bringt demnach die Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen.

Sechs Millionen im Jahr 2005, zehn Millionen Euro im Jahr 2006 diese Summen will die EU-Kommission nun in den Aufbau einer Europäischen Agentur stecken, um die Zusammenarbeit an den Außengrenzen zu verbessern. Für Ben Hayes von der Organisation Statewatch ist dies eine Weiterentwicklung der Festung Europa. »Im Kommissionsvorschlag wird kein Wort über die Rechte von Migranten, über Menschenrechte oder das Recht auf Asyl verloren«, beklagt der Menschenrechtler.

Die beschriebenen Aufgaben beziehen sich in erster Linie auf Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen sowie eine verbesserte technische und operationelle Zusammenarbeit. Die EU liefere durch eine solche Agentur nur die politische und rechtliche Legitimation für etwas nach, das längst in die Tat umgesetzt wurde. »Hier wird lediglich nach einer sicheren Finanzierungsgrundlage dieser Aktivitäten durch das EU-Budget gesucht«, meint Hayes, »und das ohne der Öffentlichkeit oder dem Parlament über den Inhalt der Arbeit einer solchen neuen Behörde Auskunft zu geben«.

Tatsächlich dürfte die Agentur wohl kaum dazu beitragen, Flüchtlinge vor dem Tod durch Ertrinken zu retten. Es werden vielmehr geltende Gesetze außer Kraft gesetzt, etwa das internationale Gesetz, wonach jedes Schiff beispielsweise dazu verpflichtet ist, Menschen in Not aufzunehmen, und sie an einen sicheren Ort zu bringen. Im EU-Papier ist vielmehr die Rede davon, diese Menschen auf dem schnellstmöglichen Weg in ihre Herkunftsländer zurückzubringen.

Neu am Konzept ist, dass künftig die Ausweisung der Flüchtlinge erstmals auf dem ganzen Gebiet der europäischen Union durch die Agentur koordiniert werden soll. Auch dies ist ein weiterer Schritt in Richtung intransparente Machenschaften an den Grenzen der EU. »Es wird unmöglich sein, einen Einblick in diese Arbeit zu haben«, vermutet Hayes.

Indessen kann die Politik der EU längst statistisch messbare Erfolge vorweisen. Noch nie wurden seit offizieller Erfassung der Zahlen so wenig Asylanträge in den Ländern der EU registriert. Nach Angaben des Flüchtlingsrats der Vereinten Nationen (UNHCR) stellten in den ersten neun Monaten diesen Jahres 21 Prozent weniger Flüchtlinge einen Asylantrag als in derselben Periode im Vorjahr und 22 Prozent weniger als im Jahr 2001. In Deutschland sank die Zahl der Asylanträge im Vergleich zu 2002 sogar um 28 Prozent. »Die meisten Flüchtlinge landen in den Entwicklungsländern«, weiß der UNHCR-Sprecher Rupert Colville. Keine neue Erkenntnis. Umso merkwürdiger sei es, dass die EU in ihren gemeinsamen Richtlinien für Asylprozeduren an den jeweils restriktivsten Praktiken der einzelnen Mitgliedstaaten festhalten wolle.

»Die Entwicklungsländer sehen in erster Linie, dass das reiche Europa die Last auf sie zurückschieben will«, ist Colville überzeugt. Durch diese Haltung riskiere man »die Auflösung des internationalen Schutzsystems für Flüchtlinge«. Bis spätestens Ende 2003, so der Zeitplan der EU, sollten die gemeinsamen Richtlinien für Asylprozeduren auf dem Tisch liegen. Auch die Flüchtlingshilfsorganisationen haben sich stets für die Einführung solcher Richtlinien ausgesprochen. Angesichts der in EU-Ministerrunden diskutierten Maßnahmen kam jedoch zunehmend Skepsis auf.

Würden die von der Kommission vorgeschlagenen Regeln in Kraft treten, würden einige Mitgliedstaaten dazu gezwungen, das Niveau der bei ihnen angewandten Standards niedriger anzusetzen. »Damit hat die Rechtfertigung, solche Minimumstandards einzuführen, ihren Sinn verloren«, stellt Ben Hayes fest. Auf großen Widerstand war vor allem die Einführung einer Liste so genannter sicherer Herkunftsstaaten gestoßen. Unter anderem hatte amnesty international gegen diese Liste protestiert, da sie in der Praxis als »automatische Sperre« für den Zugang zur Asylprozedur dienen könnte.

Zudem wird beklagt, dass Flüchtlinge der neuen Richtlinie zufolge abgeschoben werden dürfen, noch bevor sie alle Rechtsmöglichkeiten ausgeschöpft haben. Dies könnte auch »weniger gut informierte Flüchtlinge treffen, die ihren ersten Antrag nicht in der bestmöglichen Form abgeben«, betonte Rupert Colville. Immerhin würden derzeit in den EU-Staaten 30 bis 60 Prozent der Asylanträge nicht im ersten Prozess, sondern im Berufungsverfahren anerkannt.

Vor zwei Wochen sprach auch der Hohe Kommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen, Ruud Lubbers, offiziell die Empfehlung aus, das Projekt der gemeinsamen Richtlinien zu verschieben. »Wir sollten auf Qualität setzen«, schrieb Lubbers in einem Brief an Silvio Berlusconi. »Auch wenn das mehr Zeit braucht, als niedrigen Standards zuzustimmen.«

Ende November beschloss daraufhin der Ministerrat, die Entscheidung zu vertagen. Die weitere Ausarbeitung der Direktive für gemeinsame Asylprozeduren wurde der irischen Regierung, die ab Mitte Dezember die Präsidentschaft der EU übernimmt, übertragen.

Damit hat Ratspräsident Berlusconi eines seiner Ziele nicht erreicht. In den Aufgabenkatalog der geplanten Agentur dürften allerdings einiger seiner Vorstellungen aufgenommen werden. Zum Beispiel die Idee seines Außenministers Franco Frattini. Dieser hatte vor einigen Monaten vorgeschlagen, Staaten eine Art Kopfprämie zuzugestehen, wenn sie erfolgreich verhindern, dass Flüchtlinge von ihren Küsten gen Europa in See stechen.