Konstitution für Kerneuropa

EU-Verfassungsdebatte von stephen rehmke

Schade ist es um das Vertragswerk für die künftige Europäische Union wahrlich nicht. Denn anders als die Begriffswahl der »Constitution pour l’Europe« zu suggerieren vermag, wird den wesentlichen Prinzipien des Verfassungsstaates wie der Trennung von exekutiver und legislativer Gewalt oder den rechtsstaatlich garantierten Freiheitsrechten nur marginale Beachtung geschenkt. Der Ministerrat würde nach dem Entwurf weiterhin der maßgebliche Entscheidungsträger in der EU sein und nahezu ungestört von der europäischen Öffentlichkeit einschneidende Beschlüsse etwa zur gemeinsamen Innen- und Rechtspolitik fällen können.

Und nun soll die gemütliche Kaminrunde der europäischen Gutsherren an den nationalen Befindlichkeiten von Polen und Spanien scheitern, die den qualifizierten Mehrheitsbeschluss ablehnen? Die Bundesregierung wehrt sich dagegen vehement und bemüht die deutsche Opferpsychose der Zukurzgekommenen. Die Deutschen ärgern sich maßlos, weil nach der aktuellen Stimmengewichtung im Ministerrat die Einzelstimmen ihrer Bevölkerung im Verhältnis zu den anderen Mitgliedsstaaten weniger zählen werden, obgleich das Nachbarland in der Entscheidungsfindung ohnehin nicht viel zu melden hat.

Gleichzeitig wird unmissverständlich durch den Begriff des »Europas der zwei Geschwindigkeiten« mit einem eigenständigen Kerneuropa gedroht. Dabei kommt es in einem Staatenverbund mit mindestens 25 Mitgliedern zwangsläufig zu wechselnden Bündnissen. Bereits in der jetzigen EU sind abweichende Tempi im Hinblick auf die Einführung des Euro oder den Beitritt zum Schengener Abkommen und sich widersprechende Auffassungen zum Wert des Stabilitätspaktes Realität.

Gerade in diesen Fragen hat sich eine deutsch-französische Kooperation etabliert, die sich auf den Gründungsmythos des vereinten Europas beruft. Beide Länder wollen nun mit dem modifizierten Abstimmungsverfahren in der von ihnen initiierten Verfassung ihre Hegemonie noch weiter ausbauen.

Dabei wird geflissentlich übersehen, dass mit dem in den fünfziger Jahren gegründeten gemeinsamen Wirtschaftssystem in Westeuropa jene deutsche Großmachtpolitik verhindert werden sollte, die sich nun in der Gestalt Kerneuropas wieder ankündigt. Polens Haltung erweist sich diesbezüglich als geschichtsbewusst, wenn es sich einer derartig institutionalisierten Hegemonialpolitik in Europa widersetzt. Ob der Regierung in Warschau diese Haltung ebenso wie ihre Anbindung an die weit entfernten USA allerdings auf Dauer von großem Nutzen sein wird, ist mehr als fraglich.

Deutschland und Frankreich werden die jetzige Polemik um die Geschwindigkeiten vom alten und neuen Europa nutzen wollen, um mit interessierten Staaten eine eigene Außen- und Militärpolitik auch gegen den Einspruch der übrigen Nationen durchzusetzen. Mit der bisherigen EU wäre dieses Ansinnen wegen des Prinzips der Einstimmigkeit nahezu unmöglich gewesen.

Die übrigen Inhalte der Verfassung werden derweil auf dem weit mühseligeren Weg der vereinzelten Ratifikationsverfahren eingebracht werden müssen. Diese Beschlüsse werden dann allerdings nicht mehr von einer Präambel verklärt werden, in der von Demokratie, Frieden und Solidarität die Rede ist.