Kein Friede im Magen

200 Jahre nach der befreienden Sklavenrebellion in Haiti brennt das Land erneut. von hans-ulrich dillmann, santo domingo

Diese Geschichte gehört zu den großen Mythen des Landes: Am Vorabend der Befreiung von der Sklavenhaltergesellschaft versammelten sich die vom afrikanischen Kontinent auf die Karibikinsel Hispaniola Verschleppten im Bois Caiman in der Nähe der nördlichen Hafenstadt Cap Haïtien. Beim flackernden Schein von Fackeln schwor ein ehemaliger Sklave namens Boukman am 14. August 1791 seine Leidensgenossen auf den Befreiungskampf ein. Im Jahr dreizehn nach diesem Ritual trafen sich die ehemaligen schwarzen Sklaven in Gonaïves wieder. Vor 200 Jahren wurde in der Hafenstadt dann die erste freie Republik auf dem lateinamerikanischen Kontinent ausgerufen. Die schwarze Bevölkerungsmehrheit hatte die französischen Kolonialherren erfolgreich in die Flucht geschlagen.

Einer der Anführer der Rebellen, François Dominique Toussaint-L’Ouverture, erlebte die Stunde der Freiheit nicht mehr. Der bereits im Land geborene einstige Sklave sah in den Jakobinern seine Freunde, eroberte für die französische Revolutionsregierung den hispanischen Ostteil der Insel. Als er jedoch deren Unabhängigkeit ausrief, wurde er arrestiert und verschleppt. Der »schwarze Napoleon« Toussaint starb 1803 in Frankreich in Kerkerhaft.

Sein Mitstreiter, Jean-Jacques Dessalines, ließ am 1. Januar 1804 in Gonaïves den weißen Streifen aus der französischen Trikolore reißen. Die Herrschaft der Weißen sei endgültig beendet, soll er dabei gerufen haben. Dessalines wollte das Land »afrikanisieren«. Weiße Plantagenbesitzer und Mulatten ließ er massakrieren. Aber bereits wenige Monate nach der Unabhängigkeit verwandelte er sich in eine billige Parodie der verhassten französischen Kolonialherrscher und ließ sich mit allem Pomp krönen. Zwei Jahre später war der »schwarze Kaiser« allerdings bereits ermordet, und das Land wurde in einen von Mulatten dominierten »republikanischen« Süden und ein schwarzes Nordkönigreich geteilt.

Erst mit der Herrschaft des in Port-au-Prince, der heutigen Hauptstadt des Landes, amtierenden Mulattenpräsidenten Jean Pierre Boyer kam die politische Einheit des Landes zustande. Der gewaltsame Konflikt zwischen der schwarzen Bevölkerungsmehrheit und der in den Jahrzehnten französischer Herrschaft entstandenen »Zwischenschicht« von Mulatten durchzieht die Entwicklung Haitis wie ein roter Faden. Von den 26 haitianischen Staatschefs, die es bis zur US-amerikanischen Besetzung im Jahre 1915 gab, fanden 21 einen gewaltsamen Tod oder wurden ins Exil geschickt.

Die Mulatten bestimmten die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Landes. Die »Schwarzen« stellten die Arbeitskräfte. Die Mulatten waren gebildet, orientierten sich am Lebensstil Frankreichs und sprachen französisch. Die »Schwarzen« schufteten, beteten ihre noch aus Afrika mitgebrachten Naturgottheiten an und kommunizierten in dem aus französischen und afrikanischen Anteilen entstandenen Kreol.

Mit der Amtsübernahme von François Duvalier endete 1957 die Dominanz der Mulatten. Duvalier gehörte zur Bewegung der »Griots«. Damit werden im Französischen die Geschichtenerzähler oder Magier afrikanischer Stämme bezeichnet. Basierend auf der Idee der »négritude«, versuchten die »Griots« eine Neuinterpretation der Geschichte des Landes aus der Sicht der Schwarzen. Als einem der profilierten Vertreter dieser Bewegung gelang Duvalier die Eroberung des Staatsamtes. Die Hoffnungen zerstoben jedoch sehr schnell, als er sich mehr und mehr zum Tyrannen aufschwang. Vergeblich versuchte die mulattische Oberschicht, »Papa Doc« aus dem Amt zu drängen. Mit seinen bösen Onkeln, den »Tonton Macoutes«, die er in den Armenvierteln des Landes rekrutierte, terrorisierte er bald unterschiedslos alle. 15 Jahre noch konnte sich sein »Baby Doc« genannter Sohn Jean-Claude im Amt halten, nachdem er 1971 die Macht übernommen hatte.

In Gonaïves entschied sich sein Schicksal. Nach monatelangen Demonstrationen suchte »Baby Doc« in einer US-Maschine unter Mitnahme der Staatskasse das Weite und in Frankreich Aufnahme. Das Land versank im Chaos. Die Obristengarde ließ Oppositionelle massakrieren, militante Teile der Bevölkerung legten den einstigen Regierungsdienern aus Rache brennende Reifen um den Hals. Militäroffiziere rissen sich gegenseitig die Türklinken des Regierungspalais aus der Hand, um sich an den wenigen verbliebenen Schätzen der einstigen »Perle der Antillen« zu bereichern.

Die soziale Ungerechtigkeit wollte vor zwölf Jahren der ehemalige Salesianerpriester Jean-Bertrand Aristide beenden. Mit seiner Losung »Friede im Geist und im Magen« überzeugte er vor allem die Besitzlosen in den Bidonvilles, den Armenvierteln der Städte und auf dem Land, die ihren Hunger stillen und – ein weiteres Versprechen – »in Würde« leben wollten. Lavalas nannte er seine Partei, in Kreol bedeutet dies so viel wie Erdrutsch. Der Anhänger der Befreiungstheologie verbuchte mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen in dem Land mit acht Millionen Einwohnern einen wahren Erdrutschsieg.

»Titid«, der kleine Aristide, wie ihn seine Anhänger liebevoll nennen, wurde nach knapp neun Monaten aus dem Amt geputscht, etwa 1 500 seiner Anhänger wurden massakriert. Erst nach einer Militärintervention konnte er 1994 aus dem US-Exil nach Port-au-Prince in seinen Amtssitz zurückkehren. Als er sich vor drei Jahren zur Wiederwahl stellte, war der Wahlkampf allerdings von Ausschreitungen seiner Schimären genannten Gefolgsleute und der Urnengang von Manipulation überschattet.

Die Versprechungen vom »Frieden im Geist und im Magen« sind bisher unerfüllt geblieben. Nach zwei Jahrhunderten nationaler Unabhängigkeit leben die Nachfahren der einstigen Plantagensklaven noch immer in Armut. 70 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos, und das durchschnittliche Einkommen von rund 25 Euro ist zu wenig, um »in Würde« zu leben. Korruption und bewaffnete Banden, die sich dem Drogenschmuggel widmen, prägen das Land. Der einstige Armenpriester Aristide, behaupten seine politischen Gegner, sei inzwischen der reichste Mann des Landes.

200 Jahre nach der befreienden Sklavenrebellion brennt das Land erneut. In Jacmel demonstrieren Groß und Klein gegen Aristide, in Cap Haïtien verweigern Unternehmer, Kleinhändler und Intellektuelle dem früheren Armenpriester die Gefolgschaft, im Zentralhochland hat sich eine Guerilla etabliert. Und in den Straßen der Hauptstadt Port-au-Prince versammeln sich fast täglich Studenten. Die Forderung nach einer Bildungsreform wurde längst von der Parole abgelöst: »Aristide muss weg« (Jungle World, 1/2/04).

Die Unabhängigkeitsfeierlichkeiten vor dem Präsidentenpalast in Port-au-Prince waren von schweren Gewalttaten überschattet. 15 000 zum Teil bewaffnete Lavalas-Anhänger standen 5 000 Demonstranten der Opposition gegenüber: brennende Barrikaden, Schüsse, Schwerverletzte. Der Staatsakt auf der Place d’Armes in Gonaïves am Neujahrstag, an dem auch der südafrikanische Staatspräsident teilnahm, hat in vieler Hinsicht Symbolcharakter. Thabo Mbeki flog mit Aristide ein, geschützt von einem riesigen Polizeiaufgebot. Lange blieben die beiden Staatsmänner nicht, denn Mitglieder der Anti-Aristide-Widerstandsfront beschossen die Fahrzeugkolonne bei der Ankunft. Es scheint, dass der einst populäre Aristide in Gonaïves, der Stadt der haitianischen Unabhängigkeit, seine Anhänger und die Macht verloren hat. Die traditionelle Kürbissuppe zum Jahreswechsel konnten nur wenige wirklich genießen.