Peace on Ice

Der Schwede Ulrich Salchow erfand Sprünge, baute Schlittschuhe und glaubte an die friedensstiftende Kraft des Eiskunstlaufs. von bruno engelin

Ein Salchow ist bekanntlich, wenn man den Fuß, ohne ihn vom Eis zu heben, aus der Vorwärts- in die Rückwärtsbewegung bringt, was einen so genannten Dreier bedeutet, rückwärts abspringt, in der Luft eine oder zwei oder drei Drehungen macht und rückwärts wieder auf dem Eis landet, ohne sofort hinzufallen.

Der sich so etwas ausdachte, war der Schwede Ulrich Salchow (1877 bis 1949), und er hatte noch mehr Ideen. Salchow war nicht nur der beste Eiskunstläufer seiner Zeit, nicht nur Theoretiker und Funktionär seiner Sportart, von 1925 bis 1937 sogar Präsident des Weltverbandes, sondern er war auch ein liberaler Kosmopolit, der mit dem Eiskunstlauf die Welt verbessern wollte.

Seine große Zeit als Eiskunstläufer war um die Jahrhundertwende. Zwischen 1900 und 1911 gewann er zehn Weltmeistertitel, und im Zeitraum von 16 Jahren wurde er neunmal Europameister. Die Grundlage seiner sportlichen Erfolge war das, was man heute professionelle Einstellung nennt. Salchow hatte nämlich sein Leben dem Eiskunstlauf verschrieben.

Er sah daher auch die gesamte Weltpolitik nur unter dem Gesichtspunkt, ob sie denn dem Eiskunstlaufen nütze. 1920 schrieb er beinah resigniert: »Der Weltkrieg hat dem internationalen Eissport ein Ende gemacht.« Hoffnung auf schnelle Besserung der Lage hatte er nicht. »Man muss nach meiner Meinung warten, bis ein historischer Blick auf die verhängnisvollen Kriegsjahre geworfen werden kann. Wir Neutralen können dann mit guten Gründen hoffen«, gab sich Salchow im Vorwort seines Buches »Kunstlaufen auf dem Eise« wieder optimistisch, »dass eine Versöhnung eintreten wird, die es ermöglicht, die früheren Feinde auf dem Felde des Sports zusammenzuführen, ohne dass es dabei zu peinlichen Zwischenfällen kommt, und dass die Delegierten aller Staaten Europas sich wieder zur friedlichen Beratung versammeln können.«

Den Grund für seine Zuversicht, dass sich so kurz nach dem Ersten Weltkrieg eine bessere Welt schaffen lasse, nannte er auch: »Ich bin dieser Ansicht um so sicherer, als tatsächlich die Nationen Europas auf dem Gebiete des Eislaufens aufeinander angewiesen sind.«

Bei aller Naivität und bei allem utopistischen Pazifismus, der in Salchows Zeilen steckt, offenbart sich doch ein grundlegend anderes und um Welten sympathischeres Sportverständnis, als es etwa hierzulande vorherrscht. Carl Diem, wohl der wichtigste deutsche Sportfunktionär des letzten Jahrhunderts, bettete sein Lob Salchows, »des Meisters der Eiskunstläufer seiner Jahre« noch 1960 in seiner »Weltgeschichte des Sports und der Leibeserziehung« ein in eine völkische Betrachtung darüber, welche Nation zu welcher sportlichen Leistung fähig sei: »Vom Volk getragen und von einer klugen Selbstverwaltung geleitet entwickelte sich der schwedische Sport. Das gesunde Klima, die ungeschwächte Rasse, die Naturverbundenheit, Wohlhabenheit, gute Erziehung, hohe Bildung, alles dies hat erfolgreich zusammengewirkt.«

Schaut man sich die Ausgangsssituation für Salchow zu Anfang des 20. Jahrhunderts an, wird jedoch klar, dass sein liberaler und eher pazifistischer Ansatz, den Sport zu verstehen, nicht so naiv war, wie es heute anmutet. Im Jahr 1908 wurde Salchow bei den Olympischen Sommerspielen in London Sieger im Eiskunstlauf. Er gewann vor dem Russen Nikolai Kolomenkin, der, weil er seinen gut dotierten Posten als zaristischer Beamter nicht gefährden wollte, unter dem Künstlernamen Panin antrat. Panin gewann zwar in einem anderen Wettbewerb, dem Figurenlaufen, Gold, aber weil er im Hauptwettkampf, dem eigentlichen Eiskunstlauf der Männer nicht mal eine Medaille gewann, unterstellte er den Kampfrichtern in London völlig erbost proschwedische und antirussische Vorurteile. Ein solches Denken war Salchow völlig fremd.

Dass bei der Sommer-Olympiade Eiskunstlauf stattfand, ist eine besondere Geschichte. Die Wettbewerbe fanden im Prince’s Skating Club Rink, dem Londoner Eispalast, statt, und betonten den Charakter der damaligen Olympischen Spiele als Treffen sportbegeisterter Gentlemen. An Extraspielen für Wintersportler dachte damals noch kaum jemand.

Die Vorläufer der Olympischen Winterspiele, die erstmals 1924 im französischen Chamonix ausgetragen wurden, waren die französischen Wintersportwochen, die »semaines internationales des sports d’hiver«, deren Organisation ab 1907 ganz maßgeblich neben dem französischen Alpenverein dem Militär oblag. Erst langsam setzten sich die zivilen Kräfte durch. Wurden zu Beginn dieser Veranstaltung vor allem die den militärischen Erfordernissen durchaus nahe liegenden nordischen Skiwettbewerbe durchgeführt, so kamen im Zuge der Zivilisierung der Wintersportwochen verstärkt auch andere Sportarten, nicht zuletzt das Eislaufen, zum Zuge.

Auch bei den Sommerspielen waren die Eisläufer erfolgreich. »Alles in allem war diesen ersten olympischen Eissport-Wettkämpfen, die entgegen der Darstellung in verschiedenen Olympiabüchern voll gültige Olympiawettbewerbe waren und auch mit den üblichen Medaillen dotiert wurden, ein großer Erfolg beschieden«, heißt es in Erich Kampers »Lexikon der Olympischen Winterspiele« aus dem Jahr 1964. Für die wegen des Ersten Weltkrieges ausgefallenen Olympischen Spiele 1916 in Berlin, deren Organisator schon Carl Diem sein sollte, waren Eislaufwettbewerbe im Schwarzwald geplant, und bei den Sommerspielen 1920 in Antwerpen wurden die Eislaufwettbewerbe tatsächlich wieder ausgetragen. Ulrich Salchow, mittlerweile 43 Jahre alt, wurde Vierter.

Der organisatorische Rahmen war 1920 eine »Wintersportwoche« nach dem französischen Vorbild. Sie wurde vor den Sommerspielen im Antwerpener Eispalast durchgeführt.

Nach den Spielen von 1924 beendete Ulrich Salchow seinen Wettkampfsport und wurde Funktionär. Auch an den materiellen Grundlagen für seine Friedensvision arbeitete er. Er entwickelte ein aus schwedischem Stahl gehämmertes Sportwerkzeug. »Der ›Salchow-Schlittschuh‹ hat ein etwas längeres flaches Mittelteil«, heißt es im 1928 erschienenen »Eissportbuch« von Fritz Reuel, »was ruhige Größe der Schulfiguren begünstigt, die Beweglichkeit in der Kür aber etwas herabsetzt.« Der Schlittschuh war noch bis in die vierziger Jahre gebräuchlich, hergestellt wurde er von einem Stockholmer Fabrikanten.

Doch die weltweite Verbreitung des Schuhs war Salchow nicht so wichtig wie die Popularisierung seines Sports. »Bei allen wirklichen Kennern und Förderern des Kunstlaufsportes wird daher, so hoffe ich«, formulierte er höflich sein liberales Interesse, »der Wunsch nach dem unbeschränkten Verkehr zwischen allen Ländern sich zur Geltung bringen und in einem edlen Interesse diejenigen vereinen, die sich früher bekämpft haben.«

Für Ulrich Salchow gab es gar keinen Zweifel, dass nicht dem Sport im Allgemeinen, sondern speziell dem Kunstlauf diese Funktion zukam. »Unserm Eissport, der von jeher der internationalste von allen war, und seiner allbewährten Organisation obliegt es, in der Zukunft einer noch schöneren und edleren Aufgabe als nur dem Schlittschuhlaufen zu dienen, der nämlich, Verständigung, Hochachtung und Versöhnung zwischen deren Ländermitgliedern zu schaffen.«