»Fotografie ist demokratisch«

Gilles Peress

Der Fotograf Gilles Peress von der New Yorker Agentur Magnum arbeitet oft in Kriegsgebieten. Der gebürtige Franzose begann 1970 mit seiner Arbeit, die ihn unter anderem in den nordirischen Bürgerkrieg, nach Ruanda, nach Lateinamerika und nach Bosnien führte. Berühmt und mehrfach ausgezeichnet wurden auch seine Studien über französische Minenarbeiter, über türkische Migranten in Deutschland und über die iranische Revolution von 1979.

Mit Gilles Peress sprach Max Böhnel in New York.

Auf vielen Ihrer Bilder sieht man Opfer von individueller Gewalt, von Kriegen oder von Katastrophen. Finden Sie solche Extremsituationen anziehend?

Nein, mich interessiert in erster Linie die Wirklichkeit, und mein Werk zeigt eine ganze Fülle solcher Situationen. Was mich außerdem anzieht, ist Geschichte. Nur die harte Wirklichkeit bietet uns einen Blick auf das, wo wir uns heute geschichtlich befinden. Extremsituationen sind nur ein Teil der geschichtlichen Realität. Den Satz von Clausewitz, Krieg sei nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, könnte man auf die Fotografie so umdeuten: Die Fotografie von so genannten Extremsituationen ist nur die Fortsetzung der Realität mit anderen Mitteln.

Welche Rolle spielt bei der Fotografie für Sie das Verstehen und Begreifen der Realität?

In der Bibel heißt es: »Am Anfang war das Wort.« Ich denke dagegen, dass es der erste menschliche Akt war zu schauen. Wir nehmen vieles war und speichern es in unserem Bewusstsein, bevor wir dafür überhaupt Worte gefunden haben. Eben dieses Feld interessiert mich: die Wirklichkeit, bevor es für sie einen Code gibt. Und deshalb kann Fotografie meiner Ansicht nach schon Antworten auf die Wirklichkeit geben, bevor nach ihr gefragt wurde. Diese Antworten finde ich sehr, sehr faszinierend. Sie ergeben sich jenseits von Vorurteilen und kultureller Voreingenommenheit.

Doch wie funktioniert der Prozess vom scheinbar unschuldigen Betrachten zum intellektuellen Begreifen ?

Beim Fotografieren und später beim Entwickeln der Bilder erkennt man Muster in der Realität, die man vorher nie vermutet hätte. In gewisser Weise lässt man die Wirklichkeit für sich selbst sprechen. Ich denke mir oft, dass es in der Fotografie neben dem Fotografen weitere Urheber gibt: die Kamera und den Betrachter. Es ist ein großer Unterschied, ob man auf scheinbar dieselbe Situation mit einer Leica oder einer Canon hält. Und der Betrachter, der sich die Bilder ansieht, bringt seine eigene Wahrnehmung mit. Fotografie lässt zur selben Zeit viele Deutungen zu. Deshalb ist sie demokratisch.

Aber sind nicht etwa Medien, die auf den Voyeurismus des Betrachters abzielen, nicht auch ein Problem, das sich undemokratisch auswirken kann?

Das Problem der Medien liegt anderswo. Denn sie zeigen nicht alles. Im jüngsten Irakkrieg zeigten uns die Medien beispielsweise nicht die Kriegsverbrechen, die einige amerikanische Einheiten begangen haben. Ich denke da an die Tötung von irakischen Zivilisten beim Vorrücken auf Bagdad. Vor allem amerikanische Medien haben in den vergangenen Jahren Zensur ausgeübt, indem sie einen Teil der Wirklichkeit bewusst nicht zeigten. Beim Voyeurismus-Problem geht es darum, wie Bilder veröffentlicht werden. Einige große Zeitschriften, übrigens auch deutsche, stellen Gewalt ebenso dar wie Sex, auf den Vorderseiten Gewalt und hinten Sex, dazwischen Werbeanzeigen. Dadurch kreieren sie eine Art Pornographie der Wahrnehmung.

Sie sagen, dies sei erst eine Entwicklung der vergangenen Jahre? Warum das?

Diese spezielle Art der Darstellung, die ich ablehne, kam im Gefolge der postmodernen Theorie, die in den achtziger Jahren Gestalt annahm und zuerst von amerikanischen Medien in Bildsprache umgesetzt wurde. Gleichzeitig wurden in den USA mit der Wahl Ronald Reagans linke und aufklärerische Ideen unmodern. Es galt als uncool, die Welt verändern zu wollen. Intellektuelle griffen nach der postmodernen Theorie wie Ertrinkende nach dem Strohhalm und machten aus dem, was sie griffen, etwas Eigenes – sogar mit einer eigenen Sprache. Ihre Hauptthese: es kann keine Darstellung der Realität geben. Wer davon aber überzeugt ist, weicht der Realität aus. Aus dieser Denkrichtung, die der Entpolitisierung das Wort redete, entstanden Schlüsselbegriffe wie »Voyeurismus« und »Ästhetisierung von Gewalt«.

Als eines der berühmtesten Beispiele der »Ästhetisierung von Gewalt« gilt Leni Riefenstahl. Halten Sie etwa auch bei ihr einen solchen Vorwurf für falsch?

Riefenstahl »vergaß« – das sage ich in Anführungszeichen –, den Schrecken des Naziregimes zu beschreiben. Alles, was sie tat, war, das Naziregime zu heroisieren. Die Ästhetisierung bei ihr war die Herstellung eines Heldenmythos. Sie umging bewusst die Untaten dieser so genannten Helden. Riefenstahl passt also in die »Ästhetisierung von Gewalt« nicht hinein.

Aber habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie ein Phänomen und eine Gefahr der Gewaltästhetisierung nicht sehen?

Wissen Sie, ich habe alles versucht: Ich habe bewusst unästhetische Leichen fotografiert, und ich habe reine Beweisfotografie gemacht, und selbst da wurde mir vorgeworfen, ich würde »ästhetisieren«.

Werden Sie manchmal von den Schreckensbildern verfolgt, die sie gemacht haben?

Ob es Schrecken oder Absurdität ist – der Schlüssel zum erfolgreichen Umgang damit ist die Bereitschaft und der Wille, etwas dagegen zu unternehmen. Wer bei einem Beweisstück, sagen wir einer Leiche, bleibt, wird krank. Etwa Gerichtsmediziner oder Leute, die von Berufs wegen Massengräber ausschaufeln. Einige überstehen den Schrecken, weil sie wissen, weshalb sie das tun. Andere, die ihrem individuellen Schicksal verhaftet sind, tragen die Schreckensbilder mit sich herum und werden psychisch krank.

Hatten Sie die Fotografie nach ihrer Arbeit in Ruanda und Bosnien satt?

An Ruanda war das Härteste für mich, nach New York zurückzukehren und die Bilder für das Ruanda-Buch zu bearbeiten. Denn dann wurde die Kluft zwischen der Wirklichkeit in Ruanda und der Gleichgültigkeit meiner Mitbürger für mich schmerzhaft deutlich. Diese Kluft machte mich krank, und ich wurde depressiv. Gleichgültigkeit gegenüber dem Schrecken ist das Schmerzhafteste an meiner Arbeit.

Gibt es Bilder, die die Welt verändert haben?

Ich glaube nicht, dass es ein einzelnes Bild gegeben hat. Aber wenn ich mir beispielsweise die Summe der Bilder und Fotos vor Augen führe, die vom Vietnamkrieg gemacht wurden, dann möchte ich schon behaupten, dass sie mit zum amerikanischen Rückzug aus Vietnam und zum Ende des Krieges beigetragen haben.

Hat dagegen die heutige Bildsprache ihre Bedeutung verloren?

In Bosnien und Ruanda haben die Medien in Bezug auf die Bildsprache recht gute Arbeit geleistet. Im Irakkrieg haben sie versagt.

Haben Sie Angst, wenn Sie an Kriegsfronten reisen, um zu fotografieren?

Es gibt Situationen, in denen man verrückt wäre, wenn man keine Angst hätte. Aber es herrscht ein falsches Bild von Kriegen. Die Momente der Gefahr sind selten im Vergleich zu den langweiligen logistischen Problemen, die man im Krieg lösen muss. Wenn ich in Gefahr bin, dann versuche ich, möglichst präzise nachzudenken. Das hilft mir, die Angst einzudämmen, denn sie lähmt. Und außerdem kann ich mich dann besser auf die Notwendigkeit konzentrieren, Bilder zu machen.