Proletarische Eliten

Bei den Studenten von heute handelt es sich um zukünftige Lohnarbeiter. Ihre Proteste sind vergleichbar mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitskämpfen. von matthias becker

Die Behauptung, wir lebten in einer Wissensgesellschaft, ist bis über die Ekelschwelle hinaus wiederholt worden. Aber leider enthält dieses Klischee eine Halbwahrheit, denn tatsächlich spielt das Wissen der Arbeitskräfte in der kapitalistischen Produktion eine immer größere Rolle. Diese Entwicklung ist beileibe nicht neu: Eric Hobsbawm, ein zeitgenössischer britischer Historiker mit Überblick, nannte die entstehende »Massenintellektualität« eine der wesentlichen Besonderheiten des vergangenen Jahrhunderts. Das Bildungsniveau stieg weltweit in einer nie da gewesenen Weise an, und es steigt weiter.

Aber auch Wissen muss produziert werden. In den fünfziger Jahren lehrten weltweit acht Millionen Menschen in Schulen und Universitäten, in den neunziger Jahren waren es 47 Millionen. Effektive und fabrikmäßige Bildungsanstalten sind heute überall eine zentraler Wirtschaftssektor, kein Extra, sondern unabdingbar.

Das ist der Hintergrund, vor dem heute Europas Regierungen versuchen, ihre Hochschulen effektiver zu machen. Sie glauben, im härter werdenden Konkurrenzkampf zwischen den Nationen und Wirtschaftsblöcken mit möglichst vielen besser ausgebildeten und daher produktiveren Lohnarbeitern gewinnen zu können. Es findet eine Aufholjagd statt, ein Wettrennen, um sich als intellektuelles Zentrum in der internationalen Arbeitsteilung zu etablieren.

So hat sich in Deutschland die Zahl der Erwerbstätigen mit Hochschulabschluss in den letzten Jahrzehnten mehr als verdoppelt. Aber das ist Bundeskanzler Gerhard Schröder und seiner Regierung immer noch zu wenig, sie wollen die Quote der Studienanfänger eines Jahrgangs auf 40 Prozent erhöhen. Im internationalen Vergleich ist das eher mäßig, Tony Blair in Großbritannien strebt 50 Prozent an. Bietet jemand mehr?

Dass sich dieses Ziel mit den bisherigen »Reformbemühungen« in den deutschen Universitäten sicher nicht erreichen lässt, tut nichts zur Sache. Die Regierung will möglichst viele gut ausgebildete Träger von Arbeitskraft, nur entsprechend zahlen dafür will sie eben nicht. Der Traum der Wirtschaftsstrategen ist ein Volk kostenloser Akademiker, und dass dieses Vorhaben unmöglich ist, hindert ein unvernünftiges System nicht, es anzustreben.

Dabei gibt es Hinweise, dass es sich bei dieser Strategie auch noch aus einem anderen Grund um eine Täuschung handeln könnte. Die britische Wirtschaftswissenschaftlerin Alison Wolf verweist auf die überraschende Tatsache, dass es keinen empirisch belegten Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und dem nationalen Bildungsniveau gibt.

Die Schweiz gehört beispielsweise beim Prokopfeinkommen zur Weltspitze, hat aber verglichen mit anderen entwickelten Staaten zwei Drittel weniger Studenten. Sowohl Ägypten als auch Südkorea investierten seit den sechziger Jahren massiv in den Bildungsbereich, aber Ägyptens Wachstumsraten betrugen durchschnittlich zwei Prozent, während in Südkorea die Rate um sieben Prozent anstieg.

Der Zusammenhang zwischen Wachstum und Bildung ist komplex; keineswegs führen mehr Hochschulabsolventen automatisch zu mehr Wirtschaftswachstum. Andererseits drängen dort, wo die Wirtschaft wächst, die Menschen in die Bildungseinrichtungen, weil sie sich, sachlich ganz richtig, von einer qualifizierten Ausbildung höhere Löhne und deshalb ein besseres Leben versprechen. Wolf und andere Kommentatoren in der Debatte um Studiengebühren behaupten sogar, dass die Arbeitskraft der Briten »überqualifiziert« sei. Auf die richtige Mischung komme es auf dem Weltmarkt an. Die Begeisterung für möglichst viele Studenten ist naiv. Treffend kennzeichnet Alison Wolf sie: »Zwei Aspirin sind gut, fünf sind besser!«

Ganz sicher ist der immer wieder gerne benutzte Vorwand, eine bessere Ausbildung führe später zu mehr Lohn und weniger Arbeitslosigkeit, ein Fehlschluss. Es herrscht in den wenigsten Bereichen Mangel an qualifizierten Arbeitern, im Gegenteil. Schon jetzt übernehmen die akademisch Ausgebildeteten nach ihrem Studiem in der Regel Jobs, für die sie früher als überqualifiziert gegolten hätten.

Wenn das Bildungsniveau insgesamt steigt, drängen die besser Ausgebildeten ihre Konkurrenten um einen Arbeitsplatz aus dem Rennen. Wie im Leistungssport, wo zwar alle Teilnehmer immer besser werden, aber es trotzdem nur einen Sieger gibt, zieht ein Unternehmer möglicherweise den Jungakademiker dem Abiturienten vor. Beide einstellen wird er nicht.

Was soll da das Gerede von Eliten? Die kalkulierte vorgebliche Provokation, so präzise geplant, wie das Medienexperten eben können, verfolgt einen doppelten Zweck. Die Regierungspartei reagiert mit ihrem Vorschlag auch auf die anhaltenden Proteste der Studenten, sie will wieder Oberhand in den Debatten gewinnen.

In Wirklichkeit hat niemand gegen die Idee, dass Elitenbildung und Bildung für Eliten nötig sei, Einspruch erhoben. Die Regierung findet ihre Rolle darin, die verschiedenen Vorschläge zur intellektuellen Leistungssteigerung zu orchestrieren.

Andererseits soll mit den so genannten Eliteuniversitäten ein Präzedenzfall geschaffen werden. An ihrem Beispiel werden umstrittenen Maßnahmen wie Studiengebühren durchgespielt und vorbereitet. Das inkriminierte Zitat aus der Vorlage für die SPD-Klausurtagung lautete (nachdem das böse Wort Elite entfernt wurde): »Wir wollen die Struktur der Hochschullandschaft so verändern, dass sich Spitzenhochschulen und Forschungszentren etablieren, die auch weltweit in der ersten Liga mitspielen und mit internationalen Spitzenhochschulen wie Harvard und Stanford konkurrieren können.«

Wichtig an dieser Absichtserklärung ist der erste Teil, die Strukturveränderung. In der Konsequenz geht es in Deutschland, wie anderswo auch, um die Einführung von Marktmechanismen, um die Produktivität der Lehrkräfte und der Studenten, um zielgenauere Investitionen und kürzere Studienzeiten.

Das also will die deutsche Regierung, und zumindest nach Meinung vieler Autoren dieser Zeitung wollen das auch die Studenten. Aber die protestieren nicht nur, weil sie immer rabiater dem Verwertungszwang unterworfen werden, sondern auch, weil sie es können. Dass die Bildungsfabriken ein wesentlicher Bestandteil der Ökonomie sind, stärkt ihre Verhandlungsposition. Auch wenn sie, im Gegensatz zum wissenschaftlichen Personal, keine Produzenten im strikten Sinn, sondern eher der Rohstoff sind: wenn sie den Universitätsbetrieb boykottieren, findet keine Wissensproduktion statt. Außerdem bringt die veröffentlichte Meinung für ihre Proteste einige Sympathie auf. Die Studenten wehren sich nicht gegen ihre Proletarisierung, sie sind längst proletarisiert.

Bei den Studenten von heute handelt es sich um zukünftige Lohnarbeiter, zur Elite (im Sinne von Entscheidungsträgern) wird nur eine Minderheit gehören. Und selbst das ist längst nicht mehr sicher.

»Für Hochschulabsolventen ist der Markt enger geworden. Die Arbeitslosigkeit von Akademikern hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen«, heißt es in einer aktuellen Veröffentlichung der Bundesanstalt für Arbeit. Und die Experten werden noch konkreter: »Für Deutschland wird im Jahr 2010 – vorsichtig gerechnet – mit einem Überangebot von Akademikern von fast 1,6 Millionen gerechnet (950 000 überschüssige HochschulabgängerInnen und 640 000 überschüssige FachhochschulabgängerInnen).«

Insofern sind die Proteste der Studenten quer durch Europa durchaus vergleichbar mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitskämpfen. Kaum einem fällt ein, streikende Arbeiter dafür zu kritisieren, dass sie die Warenform ihrer Arbeitskraft nicht in Frage stellen. An der Bewegung der Studenten wird es denunziert.

Bekanntlich behaupten Streikende gerade auch in Deutschland häufig, dass ihre besonderen egoistischen Interessen dem gesellschaftlichen Ganzen dienen. Beispielsweise mit dem linkskeynesianischen Argument, höhere Löhne steigerten die Kaufkraft. Eben solche Argumente finden sich in den Verlautbarungen und Flugblättern der Studenten, wenn sie ihren legitimen Wunsch, nicht noch mehr intellektuelle Spitzenleistungen vollbringen zu wollen, mit der Innovationsfähigkeit des Standorts zu legitimieren versuchen.

Vielleicht ist es ja unvermeidlich, dass eine Bewegung von Intellektuellen besonders absonderliche ideologische Formen annimmt. Aber der Inhalt einer Bewegung besteht nicht in ihren Flugblättern, sondern in ihren Aktionsformen.

Die Kritiker, die der Studentenbewegung voreilig allen emanzipativen Gehalt absprechen, bleiben auf genau dieser ideologischen Ebene. Und vielleicht ist auch das kein Zufall, kennen sie doch das Elend des studentischen Milieus ausnahmslos aus eigener Erfahrung.

Die Angst vor der eigenen Zukunft verbindet die Studenten und ihre Kritiker. Allen ist klar, dass ein Hochschulabschluss längst nicht mehr vor der Arbeitslosigkeit oder vor miesen Jobs schützt. Der momentane Bedarf an Ideologiekritikern tendiert sogar gegen Null. Da wäre es doch nicht schlecht, wenn Bildung keine Ware mehr wäre.