Ein anderer Name für Folter

In der Türkei sind Menschenrechtsverletzungen nach wie vor an der Tagesordnung. Ärzte, die eine Misshandlung diagnostizieren, müssen mit einem Verfahren rechnen. von sabine küper-büsch, istanbul

Auf die Frage, warum er sich nicht mehr für die seit zehn Jahren inhaftierten kurdischen Abgeordneten der verbotenen Demokratie-Partei (DEP) Hatip Dicle, Orhan Dogan, Selim Sadak und Leyla Zana einsetzt, hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan stets eine kecke Antwort parat. Auf die Gefängnisstrafe anspielend, die 1998 wegen einer im südostanatolischen Siiert gehaltenen Rede über ihn verhängt wurde, entgegnete Erdogan Mitte Januar bei seinem Besuch in Berlin einem türkischen Journalisten: »Nun, sie sitzen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Warum hat sich kein Europäer darüber empört, dass ich monatelang im Gefängnis saß, weil ich ein Gedicht zitiert habe?«

Was im Fernsehen schlagfertig wirkt, wird die Europäische Kommission bei der Beurteilung der Frage, ob die Türkei die Kopenhagener Kriterien erfüllt, nicht beeinflussen. Dass die Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) mit vielen Altlasten zu kämpfen hat, wird in Brüssel zwar mit Nachsicht gesehen. Immerhin hat Erdogan nach der Abschaffung der Todesstrafe ein weiteres Hindernis für den EU-Beitritt seines Landes beseitigt. Mitte Januar beschloss das Parlament in Ankara einen Gesetzesentwurf, der lebenslange Haft für Folter mit Todesfolge vorsieht. Doch Erdogan kann nicht mit Verständnis rechnen, wenn er offensichtlich die Realität leugnet. Seine Behauptung, in der Türkei existiere die Folter nicht mehr, ist unglaubwürdig.

Nach Angaben der Türkischen Stiftung für Menschenrechte (TIHV) wandten sich in den vergangenen zwei Jahren 965 Hilfesuchende an Ärzte. In etwa 350 Fällen wurde Folter diagnostiziert. Die übrigen waren »nur« misshandelt worden, in 99 Prozent der Fälle von türkischen Sicherheitskräften. Ein Viertel der Geschundenen waren Frauen, im letzten Jahr wurden außerdem 30 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren behandelt.

Unliebsame Zahlen, die der Stiftung inzwischen selbst viel Ärger einbringen. Anders als der nur durch Eigenproklamation politisch unabhängige türkische Menschenrechtsverein genießt die TIHV wegen ihrer Unabhängigkeit vor allem im Ausland hohes Ansehen. Die Ärzte der TIHV haben in jahrelanger trauriger Berufspraxis ausgefeilte Methoden entwickelt, um normalerweise kaum erkennbare Foltermethoden wie subtil verabreichte Elektroschocks, verheilte »Falaka« (Schläge auf die Fusssohlen), lang zurückliegende Vergewaltigungen und sexuelle Misshandlungen plausibel nachweisen zu können.

Ihre Ergebnisse fungieren häufig vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Gegengutachten zur korrumpierten türkischen Gerichtsmedizin. Kein Wunder, dass die Stiftung und die dort tätigen Ärzte immer wieder vor dem Staatssicherheitsgericht angeklagt wurden, allerdings ohne jemals verurteilt worden zu sein.

Der bislang absurdeste Prozess läuft seit November. Die Stiftung wird angeklagt, sich wegen mehrerer, meist für ausländische Organisationen angefertigter Berichte außerhalb der gültigen Statuten bewegt zu haben. In den Berichten geht es um die Situation in den Gefängnissen während des Hungerstreiks in den Jahren 2000 und 2001. Insbesondere werden dabei die Fälle des Verschwindenlassens politisch Unliebsamer erwähnt, die Exekution von Straftätern oder Verdächtigen mit politischem Hintergrund sowie die Vertreibung vor allem der kurdischen Bevölkerung aus den südostlichen Gebieten des Landes. Alle diese Berichte beruhen auf längst verifizierten Erkenntnissen über die politische Situation in der Türkei seit dem Militärputsch von 1980, mit dem die damalige Militärregierung die verfassungsmäßige Grundlage für weitgehende Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte schuf. Dieses Erbe will die AKP in ihren Bemühungen um Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Europäischen Union nun abtragen.

Das größte Problem ist jedoch bislang, dass sich trotz der veränderten Gesetzgebung die Rechtswirklichkeit nicht entsprechend wandelt. Im türkischen Recht schlummern noch viele Paragraphen, die die Zivilgesellschaft auf der altbekannten Linie halten sollen. Neben dem Vorwurf, das Stiftungsgesetz verletzt zu haben, werden neun Mitglieder der THIV, inklusive dem Vorsitzenden und dem Generalsekretär, noch angeklagt, illegal über das Internet Geld für politische Zwecke gesammelt zu haben. Während politische Oppositionelle bislang stets wegen des Verdachts auf seperatistische oder subversive Praktiken angeklagt wurden, verlegt sich die Staatsanwaltschaft nun auf den Verdacht der Veruntreuung.

Die Stiftung für Menschenrechte hatte während des Hungerstreiks im Jahr 2001 damit begonnen, entlassene Gefangene medizinisch zu behandeln. Der Hungerstreik hatte sich damals monatelang hingezogen, weil die türkische Regierung entschlossen war, vor allem politische Gefangene in die neuen Hochsicherheitsanstalten, die so genannten F-Typen, zu verlegen. In dem neuen Gefängnis sollten die Gefangenen in Einzelzellen und Kleingruppen untergebracht werden. So wollte die Regierung offiziell die Bandenbildung und Indoktrinierung im Gefängnis unterbinden. Gleichzeitig schuf sie aber die Möglichkeit, die Insassen unter Druck zu setzen und unbemerkt zu foltern.

Im Ausland und auch in der Türkei blieb die von den Streikenden erwünschte Aufmerksamkeit und Solidarisierung aus, weil vielen die Begründung der türkischen Regierung plausibel erschien. Zudem gingen die Sicherheitskräfte massiv gegen Angehörige und Solidaritätsgruppen vor. Eine wirksame Öffentlichkeitsarbeit wurde erfolgreich verhindert.

Die Ereignisse eskalierten, als die Armee die Gemeinschaftszellen in den türkischen Gefängnissen im Dezember 2000 stürmte, um den Hungerstreik zu beenden (Jungle World, 2/01). Mit Gasbomben und einem Kugelhagel töteten die in Panik geratenden Soldaten 28 Häftlinge sowie zwei ihrer eigenen Kameraden. Wie viele Menschen dem Todesfasten insgesamt zum Opfer fielen, ist bis heute nicht bekannt. Als die Gefängnisleitungen bemerkten, dass die zahlreichen Opfer dem Streik die bis dahin erfolgreich unterbundene Aufmerksamkeit bringen würden, entließ sie viele Gefangene, die sich in einem besonders kritischen Zustand befanden.

Viel hat sich an der Rechtswirklichkeit mit der Regierung unter Ministerpräsident Erdogan nicht verändert. Die türkische Justiz setzt nach wie vor darauf, die Verfahren zu verschleppen. So wurden die Ärzte erst angeklagt, nachdem der Hungerstreik fast völlig in Vergessenheit geraten war.

Das Wiederaufnahmeverfahren gegen die kurdischen Abgeordneten, das nach Weisung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wegen Unregelmäßigkeiten in der Prozessführung im Frühjahr 2003 begann, schleppt sich hin. Vermutlich werden die Abgeordneten kurz vor Ende ihrer Haftstrafe Mitte nächsten Jahren freigelassen, um die heftige Kritik aus dem europäischen Ausland zu beschwichtigen. Sie werden dann voraussichtlich mehr als zehn Jahre inhaftiert sein, länger als jeder verurteilte Mörder in der Türkei.

Besonders zynisch wirkt dabei der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft in Ankara gleichzeitig mit der Wiederaufnahme des Prozesses gegen die Ärzte der Menschenrechtsstiftung beschlossen hat, nun auch die Soldaten und Polizisten anzuklagen, die vor drei Jahren an der Niederschlagung des Hungerstreiks beteiligt waren. So stehen bald alle Beteiligten an dem Massaker vor Gericht: Die Täter und auch diejenigen, die den Opfern geholfen haben.