Folterschule der Nation

Neu aufgetauchte Fotos beweisen: Die argentinische Armee hörte in der Demokratie nicht auf zu foltern. von jessica zeller

Fast konnte man von einem Déjà-vu-Erlebnis sprechen, als ein Dutzend Fotos von folternden Soldaten vor knapp zwei Wochen zunächst die Menschenrechtsorganisation CELS in Buenos Aires und anschließend die argentinische Regierung erreichte. Sie zeigen nackte Gefangene, denen Kapuzen über den Kopf gezogen sind, die geschlagen und mit elektrischen Knüppeln malträtiert werden. Andere Aufnahmen bilden Personen ab, die bis zum Hals im Wasser eines Brunnens stehen. Der einzige Unterschied zu den Bildern aus den Zeiten der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 besteht darin, dass die Gequälten selbst Soldaten sind, die bei dieser Übung gleichzeitig »lernen« und »abgehärtet« werden sollten.

»Diese Bilder stammen nicht aus einem Konzentrationslager für politische Gefangene«, so die kritische argentinische Tageszeitung Página 12, vielmehr seien sie im Jahr 1986 während eines jährlich stattfindenden »Trainingscamps« der Armee aufgenommen worden. Zu dieser Zeit war Argentinien bereits seit drei Jahren zur Demokratie zurückgekehrt. Unter der Militärdiktatur war die Folter als Form »nicht konventioneller Kriegsführung« an der Tagesordnung; mindestens 30 000 Menschen kamen insgesamt ums Leben.

Entdeckt wurden die Aufnahmen bei der Auflösung der Filiale eines Fotolabors bei Mar del Plata an der argentinischen Atlantikküste. Der Besitzer des Labors gab die Bilder an einen befreundeten Fotografen weiter, der dann Kopien an CELS schickte. Der Vorsitzende der Organisation, der Publizist Horacio Verbitsky, übergab sie wiederum dem Verteidigungsministerium. »Wir wollten keine öffentliche Anklage erheben, ohne genau zu wissen, worum es sich handelte«, begründete Verbitsky seinen Schritt.

Präsident Nestór Kirchner ließ seinem Verteidigungsminister José Pampuro und dem Obersten Heereschef Roberto Bendini zwölf Stunden Zeit, die Authentizität der Bilder zu überprüfen. Die Fotos von einer militärischen »Übung« in der Nähe der Stadt Córdoba sind zweifelsfrei echt. Bestätigt wurde diese Aussage vom derzeitigen Sektionsleiter in Córdoba, Oberst Sergio Fernández. »Diese ›Trainingscamps‹ gab es von 1965 bis 1990«, erklärte der Verteidigungsminister in der vorletzten Woche vor der Presse. Lediglich von 1991 bis 1993 habe es sie nicht gegeben. 1994 kam es, so Pampuro, zu der letzten »Übung« dieser Art. Grund für das Ende der »Ausbildung« sei jedoch nicht die Einsicht der militärischen Vorgesetzten gewesen, sondern die Abschaffung der Wehrpflicht und die damit einhergehende Umstrukturierung der Armee unter dem damaligen Präsidenten Carlos Menem im selben Jahr.

Im Gespräch mit dem Präsidenten und verschiedenen Vertretern von Menschenrechtsorganisationen wurde Pampuro noch deutlicher. Am Ende der sechziger Jahre seien die dreiwöchigen Kurse von französischen Offizieren, die diese Methoden bereits in Indochina und in Algerien angewandt hatten, eingeführt worden. Später seien sie in der »Escuela de las Américas« in den Vereinigten Staaten »systematisiert« worden. Dort wurden lateinamerikanische Militärs aus verschiedenen Ländern von US-Streitkräften gemeinsam zur erfolgreichen Bekämpfung von Guerillas und »Subversion« ausgebildet. »Ich habe an diesen ›Übungen‹ nicht teilgenommen«, schloss der Verteidigungsminister seine Ausführungen.

Mit den Enthüllungen kommen auch andere Vorfälle wieder ans Licht der Öffentlichkeit, die beweisen, dass die argentinische Armee Folterpraktiken der Diktatur in der Demokratie einfach fortsetzte. So soll mit der Aufklärung der Ereignisse in Córdoba nach Ansicht des Menschenrechtsbeauftragten der Regierung, Eduardo Luis Duhalde, auch ein Prozess aus dem Jahr 1986 erneut aufgerollt werden. Damals klagte ein wehrpflichtiger Soldat die Folterpraktiken seiner Vorgesetzten in der Provinz Neuquén an. Er und seine Kameraden seien mitten in der Nacht mit Stromschlägen gequält worden. Das Militärgericht sah in den Vorfällen damals »kein Vergehen«, und auch die bürgerliche Justiz legte den Fall zu den Akten. Die Entscheidung des Bundesgerichts von Mitte vergangener Woche, nun Ermittlungen gegen alle Personen einzuleiten, die bei den Folterpraktiken »entschieden, angestiftet oder mitgemacht« hätten, unterstützt hingegen die Forderungen Duhaldes.

Der zuständige Staatsanwalt Jorge di Lello begründete seine Entscheidung damit, dass der Folter eine »zentrale Entscheidung« zu Grunde gelegen habe und die Handlungen gleichzeitig an mehreren Orten ausgeübt worden seien. So könnten nicht nur die Militärs, sondern auch frühere Verteidigungsminister und möglicherweise sogar die ehemaligen Präsidenten Raúl Alfonsín und Carlos Menem, in deren Amtszeiten die Taten geschahen, zur Verantwortung gezogen werden.

Juan Castro Oliviera von der konservativen argentinischen Tageszeitung La Nación vertritt jedoch im Gespräch mit der Jungle World eine andere Auffassung. Seines Erachtens geht es mehr noch als um gewonnene Prozesse um erfolgreiche Publicity der Regierung und der sie unterstützenden Menschenrechtsbewegung. »Man darf nicht vergessen, dass es für viele Militärs schwierig ist, einen Ex-Linken als Präsidenten zu akzeptieren. Kirchner betreibt daher mit Ereignissen wie den aufgetauchten Fotos geschickten Rufmord. Die Militärs stehen in der Öffentlichkeit anschließend noch schlechter da als ohnehin schon.«

Tatsächlich passt die Aufklärung der Vorfälle durch die argentinische Regierung gut ins Bild der Orientierung ihrer Politik an den Menschenrechten. Kurz nach dem Beginn seiner Amtzeit, im Mai 2003, erklärte Präsident Kirchner bereits die 1986 und 1987 verabschiedeten Amnestiegesetze für die während der letzten Militärdiktatur begangenen Verbrechen für verfassungswidrig. Nun kann er seinen Vorgängern neben der Schuld für das wirtschaftliche Debakel des Landes auch Menschrenrechtsverletzungen vorwerfen. Wie weit seine Politik dabei jedoch über bloße Symbolik hinausgeht, ist unklar. Bisher erschien noch kein Offizier wieder vor Gericht.