Die Straße droht

Über zwei Jahre bot ein ehemaliges Militärgelände in Barcelona Zuflucht für 700 obdachlose Migranten. Bald sollen die letzten Besetzer vertrieben werden. von inge wenzl, barcelona

Nur wenige Tage vor dem endgültigen Räumungstermin herrscht in den zwei ehemaligen Kasernen von Sant Andreu Endzeitstimmung. Jeden Tag sinkt die Zahl der Bewohner. Einige verlassen ihr Domizil auf eigene Faust, andere haben sich in Einzelgesprächen mit Angehörien des Roten Kreuzes – das sich in Absprache mit der katalanischen Regierung um ihre Evakuierung kümmert – die Miete eines Zimmers für ein paar Monate erhandelt.

Eines der beiden Zentralgebäude ist bereits abgerissen, auf der anderen Straßenseite stehen noch ein Haupt- und zwei Seitengebäude. Es riecht nach Urin, überall liegt Müll herum: kaputte Fernseher, das Wrack eines Kinderwagens, Glasscherben. Die Müllabfuhr boykottiert das Gelände. Mehrmals täglich fährt ein Polizeiauto Streife. Nach einer Zählung der NGO Ärzte der Welt leben noch 150 Menschen in den Kasernen. Im vergangenen Sommer waren es fast 700.

Inzwischen ist es dunkel geworden. Eine Gruppe junger Männer aus Ghana wäscht vor einem der Häuser Geschirr ab. »Wir sind hierher gekommen, um zu arbeiten«, erzählt Edward, ein hübscher Mann mit kräftig geschnittenen Zügen. »Aber wir finden keinen Job, weil wir keine Papiere haben.« Stärker noch als Einwanderer aus Lateinamerika oder dem Osten, die leichter eine Schwarzarbeit finden, sind die Afrikaner zusätzlich mit Rassismus konfrontiert.

Als Immigrant arbeitslos zu sein, bedeutet in Katalonien, in verlassenen Häusern oder auf der Straße zu leben. Ein Heim für mittellose Flüchtlinge oder Neuankömmlinge gibt es nicht. »Jetzt, im Winter, ist es hier sehr kalt«, sagt Edward. »Wir haben weder Toiletten noch Wasser.«

Über zwei Jahre boten die Kasernen von Sant Andreu Zuflucht für Menschen aus mehr als 30 Ländern. Viele von ihnen haben kein Aufenthaltsrecht, andere verdienen trotz ihrer Papiere nicht genug, um ein Zimmer bezahlen zu können. Auch spanische Obdachlose haben hier gewohnt. Zuvor standen die Kasernen vier Jahre lang leer. Im Mai 2003 beantragte der Eigentümer, das spanische Verteidigungsministerium, die Räumung. Als die Entscheidung in den Herbst verschoben wurde, führte die Polizei eine Razzia durch, bei der sie einen Großteil der Bewohner festnahm. Zwar musste sie mehrere von ihnen aufgrund von Verfahrensfehlern wieder freilassen, aber Enrique Mosquera von der NGO Papiere für alle schätzt dennoch, dass in den vergangenen Monaten insgesamt 250 Besetzer in ihre Heimatländer ausgewiesen wurden.

Mit der wachsenden Zahl der Besetzer wurden unter den Einwohnern des relativ armen Viertels Sant Andreu Nord die Rufe nach einer Räumung immer lauter. Hatten sie in den ersten Monaten unter der Anleitung der Nachbarschaftsinitiative Sant Andreu Nord noch Decken, Kleider und Essen für die Migranten herbeigeschafft, formierte sich nun eine neue Organisation, die die Räumung fordert.

Mit einem Vier-Etappen-Plan, den das Rote Kreuz seit Mai 2003 durchführt, will man das Kasernengelände friedlich räumen. Ziel sei es zudem, so der Vorsitzende der Lokalorganisation Barcelona, Josep Marqués, die Besetzer mittels vorübergehender Hilfe, Sprachkursen und Weiterbildung so weit zu bringen, ihre Lage langfristig allein zu meistern. Laut Marqués hatte das Rote Kreuz Mitte Januar 2004 bereits 367 Immigranten anderweitig untergebracht. Mit ihrem individuellen Hilfskonzept, kritisiert die NGO Papiere für alle, versucht das Rote Kreuz – ebenso wie die Stadt und die katalonische Regierung mit ihrer Politik –, eine Selbstorganisierung der Migranten zu verhindern: »Sie wollen die Leute vereinzeln, damit sie nicht gemeinsam für ihre Sache kämpfen«, meint Mosquera. Außerdem »besteht keine Kontrollmöglichkeit darüber, wer für wie lange wo unterkommt oder wie viel Geld kriegt«.

Für viele der Bewohner der Kasernen ist dies nicht der erste Kontakt mit dem Roten Kreuz, vor allem für viele Afrikaner, die bereits eine lange Odyssee hinter sich haben. Wie Christian, ein junger Mathelehrer aus Sierra Leone, der vor drei Jahren vor dem Bürgerkrieg nach Spanien floh. Mit einem Floß gelangte er nach Fuerteventura, wo er von der Grenzpolizei 30 Tage lang festgehalten wurde. Danach ließ sie ihn frei. Spanien gewährt politischen oder Kriegsflüchtlingen zwar de facto fast nie Asyl, aber nicht mit allen Staaten existieren Rücknahmeabkommen.

In Barcelona schlief Christian zunächst am Hauptbahnhof, 2001 beteiligte er sich an der spektakulären Besetzung der Plaza Catalunya (Jungle World, 7/01). Damit versuchten damals knapp 200 obdachlose Migranten auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Als der Platz im Sommer 2001 geräumt wurde, bezahlte das Rote Kreuz dem jungen Lehrer einen Sprachkurs und ein Zimmer. »Doch nach drei Monaten erklärten sie, das Programm sei nun beendet«, erzählt Christian, und so landete er wieder auf der Straße.

Im Februar des vergangenen Jahres zog er in die Kasernen von Sant Andreu, aber dort fühlte er sich nie wirklich zuhause. »Ich kam eigentlich nur zum Schlafen«, erinnert er sich. »Morgens stand ich um sechs auf. Ich musste endlich einen Ausweg aus meiner Lage finden.« Seit zwei Monaten wohnt Christian in Hospitalet, einer Nachbargemeinde Barcelonas. Das Rote Kreuz will mindestens drei Monatsmieten übernehmen.

Jüngst versprach die neue katalanische Ministerin für Immigration, Adela Ros, allen, die noch in den Kasernen leben, bis Ende März ein Dach über dem Kopf. Ein längerfristiges Angebot hat sie jedoch auch nicht. Die Einrichtung einer Art Auffanglager, wie es sie in Andalusien oder auf den Kanaren gibt, sei noch nicht geplant, erklärte die Ministerin. Dafür brauche man auch die Zustimmung der Regierung in Madrid. In deren Politik sieht Ros überhaupt die Ursache des Missstandes. »Es ist sehr schwer, die Lage der Immigranten zu bessern. Es gibt da ein großes rechtliches Problem«, erklärte sie, auf das erst im Dezember erneut verschärfte Ausländergesetz anspielend.

Nach Einschätzung der Anwältin Antonia Moyano, die einige der Besetzer von Sant Andreu vertritt, haben Nicht-EU-Staatsbürger, die ohne Visum und Arbeitsvertrag nach Spanien einreisen, nach der neuen Gesetzgebung keine Chance mehr auf Legalisierung, es sei denn, es gäbe eine dritte außerordentliche Amnestie, wie in den Jahren 2000 und 2001. Doch das schließt der Sicherheitsberater der Regierungsvertretung Madrids in Katalonien, Federico Cabrero, aus: »Das würde neue Migranten anlocken und verstößt gegen die Vereinbarungen der EU.« Für Cabrero besteht die einzige Lösung darin, alle Immigranten ohne Papiere aus Spanien auszuweisen.

Weder Christian noch Edward zweifeln daran, dass sie im Frühling wieder zurück auf die Straße müssen. Die Zukunft des Militärgeländes ist ebenfalls noch unklar. Ein Sprecher des Stadtrats gab zu, dass er derzeit mit dem Verteidigungsministerium über eine Schenkung verhandele. Auf den 90 000 Quadratmetern sollen dann Wohnungen entstehen.