Tötet Miss Verständnis!

Nach einer Woche Berlinale hat elke wittich genug von Frauen, die alles verstehen und verzeihen

Hatten wir nicht gerade erst von Nicole Kidman in Lars von Triers »Dogville« gelernt, dass man an die Mitmenschen genau so strenge Maßstäbe anlegen sollte wie an sich selbst?

Ja.

Ist es nicht eigentlich eine gute Idee, für die Fehler, die man bei sich selbst partout nicht entschuldigen kann, auch dann keine Erklärungen zu suchen, wenn sie bei anderen Menschen vorkommen?

Ja.

Und warum hält sich das Kino nicht mehr daran und zeigt schon wieder Frauen, die alles verzeihen und verstehen und pausenlos versuchen, die besseren Menschen zu sein? Zum Beispiel in John Boormans Wettbewerbsbeitrag »Country of my skulls«. Was die Filmkritiker des RBB mit den Worten »großes politisches Gefühlskino« bejubeln, ist in Wirklichkeit nichts weniger als der klassische »Alles verstehen heißt alles verzeihen«-Sülzkitsch. Die südafrikanische Dichterin Anna (Juliette Binoche), aus einer Eins-a-Burenfamilie stammend, soll für einen Rundfunksender über die Arbeit der Wahrheitskommission berichten. Was sie hauptsächlich weinend erledigt. Die Frau heult sich derart voller Verständnis für alles und jeden durch den Film, dass man sich schon nach einer knappen Dreiviertelstunde wünscht, irgendjemand würde ihr endlich einen brennenden Autoreifen um den Hals legen, damit endlich Ruhe ist.

Eytan Fox’ Panorama-Beitrag »Lalecet Al Hamaim (Walk On Water)« hat dagegen den Vorteil, dass dort nicht geweint wird. Allerdings beginnt nach einer ziemlich lustigen Stunde, in der es hauptsächlich um deutsch-israelische Vorurteile geht, leider auch die große Männerversteherei, dargeboten von Caroline Peters. Sie spielt eine Deutsche, die sich in einen Kibbuz zurückzieht, weil sie mit ihrer den flüchtigen Nazi-Großvater unterstützenden Familie nichts mehr zu tun haben will. Und lernt bei einem Israelbesuch ihres Bruders einen verbitterten Mossad-Agenten kennen, der eben diesen Großvater töten soll. Am Ende ist der Nazi-Opa dann tatsächlich tot – wenn auch durch die Hand des eigenen Enkels, weil der Mossad-Mann plötzlich kein Killer mehr sein mag – und die Deutsche hat dank ihres liebenden Verstehens aus dem harten Agenten einen zärtlichen Ehemann und Vater gemacht.

Immerhin, es geht auch ganz anders. Der Wettbewerbsfilm »Monster« erzählt die Geschichte von Aileen Wuornos, die von US-Medien als erste weibliche Serienkillerin der USA bezeichnet wurde. Von Verständnis-Haben und Nett-Sein ist diese Frau äußerst weit entfernt. Darstellerin Charlize Theron, ein ehemaliges Model, hat für die Rolle extra zehn Kilo zugenommen, mit Spezial-Make-up und Prothesen wurde sie in die eher unschöne Aileen Wuornos verwandelt. Gleich zu Beginn des Films schaut sie in den Spiegel eines siffigen Tankstellenklos, streicht sich zärtlich durch die schmutzigen Haare und sagt: »Ya look good. Yeah!«

Diese kurze Szene beschreibt Wuornos’ tatsächliche Probleme mit der Realität. Sie hielt sich für die neue Marilyn Monroe, scheiterte jedoch immer wieder an den eigenen Ansprüchen.

»Monster« hat nur einen Fehler, und das ist das realistische Ende. Wuornos wird nach der Kronzeugenregelung von ihrer Freundin verraten und landet in der Todeszelle. Im richtigen Leben wurde sie am 9. Oktober 2002 hingerichtet. Nach einem Prozess, der alles andere als fair war.

Kurz vor Weihnachten 1989 wurde in einem Waldstück bei Ormond Beach, Florida, die Leiche eines Mannes gefunden. Der Ladenbesitzer Richard Mallony war erschossen und anschließend ausgeraubt worden. In den nächsten zwölf Monaten wurden in der gleichen Gegend noch fünf weitere Männer ermordet, die Profiler des FBI erkannten rasch, dass nur »ein oder zwei Täterinnen« in Betracht kommen könnten.

Im Dezember 1990 wurden Aileen Wuornos und ihre Freundin Tyra J. Moore verhaftet. Der Vertreter der Anklage beschrieb Wuornos vom ersten Verhandlungstag an als »lesbische, mörderische Rächerin«, die Beschuldigte habe »wie eine Spinne an der Straße auf ihre Opfer gelauert – Männer«.

Aileen, oder »Lee«, wie sich selbst nannte, bekannte sich bereits bei der Verhaftung als des Mordes an den sechs Männern schuldig, sie habe jedoch, so betonte sie, »lediglich in Notwehr gehandelt«, da die späteren Opfer sie zu vergewaltigen drohten.

Das Video ihrer ersten polizeilichen Vernehmungen wurde den Geschworenen allerdings in einer extrem gekürzten Fassung vorgespielt. Jede Erwähnung der Notwehrsituationen war herausgeschnitten worden, so dass die Geschworenen bei der Hauptverhandlung den Eindruck haben mussten, dass Wuornos sich das Motiv erst im Nachhinein ausgedacht habe.

Lee arbeitete zudem als so genannte Highway-Prostitutierte, sie sprach ihre Kunden in Raststätten und Tankstellen an. Der Staatsanwalt machte immer wieder deutlich, dass die panische Angst vor sexuellen Übergriffen daher eigentlich nicht nachvollziehbar sei.

Wuornos’ Verteidiger, den Unterstützergruppen später sarkastisch als »wichtigstes Beweisstück in einem Revisionsprozess« bezeichneten, hatte dem nur wenig entgegenzusetzen. Weder verwies er darauf, dass Postituierte in den USA durchschnittlich 33 Mal pro Jahr Opfer von Vergewaltigern werden, noch rief er ehemalige Freier in den Zeugenstand, die Lee hätten entlasten können.

Dass Wuornos, die im Alter von 14 nach fortgesetztem Missbrauch von ihrem eigenen Großvater schwanger wurde, psychisch krank war, kam ebenfalls nicht zur Sprache. Erst kurz vor ihrer Hinrichtung wurde sie 15 Minuten von einem Psychiater untersucht, der zu dem Schluss kam, dass sie gesund genug sei, um zu sterben. Wuornos’ letzte Worte lauteten, dass sie nun zu Jesus gehe, »am 6. Juni wie im Film ›Independence Day‹ mit dem großen Mutterschiff und allem Drum und Dran«, aber wieder zurückkommen werde.

Wenigstens von einem Hollywood-Film hätte man erwarten dürfen, dass er die dysfunktionale Männer-Nichtversteherin am Leben lassen würde.