Tschüss Sonne! Tschüss Freiheit!

Frisst die Agenda 2010 ihre Kinder? Schröder ist angezählt, die SPD liegt am Boden. von stefan wirner

Gerhard Schröder war gut drauf am 3. September 1998, als er im Bundestag zum Rededuell mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) antrat. Er rechnete mit der Politik der vorangegangenen 16 Jahre ab. »Heute, wenn jemand der durchschnittlich verdienenden Menschen das Wort ›Reform‹ nur hört, kriegt er doch schon einen Schrecken und denkt daran: Jetzt wollen Kohl und Blüm schon wieder an mein Portemonnaie.« Die Sozialdemokraten im Plenarsaal spendeten ihrem Hoffnungsträger enthusiastischen Beifall. Und Schröder versprach, für ein gesellschaftliches Klima zu sorgen, »in dem Reformen, verstanden als die Verbesserung der Lebenslage der breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung, überhaupt erst wieder möglich werden«.

Man möchte Angela Merkel empfehlen, diese Rede, vor allem ihre Passagen zur Renten- und Gesundheitspolitik, demnächst im Bundestag zu halten, denn sie bräuchte nur den Namen Kohl durch Schröder zu ersetzen. Fünfeinhalb Jahre nach der Regierungsübernahme der rot-grünen Koalition zucken bei dem Wort »Reform« alle zusammen, die wenig verdienen oder gar keine Arbeit haben. Mit der Agenda 2010 ist ein Verarmungsprogramm für die unteren Schichten der Bevölkerung in die Wege geleitet worden, das seinesgleichen sucht nach 1945. Der Sozialabbau ist allenthalben spürbar geworden, sei es auf dem Arbeitsamt oder beim Arzt.

Das hat Konsequenzen. Nur 24 Prozent der Befragten gaben in den jüngsten Umfragen an, die SPD bei einer Bundestagswahl noch wählen zu wollen. 43 000 Mitglieder verließen die Partei im Jahr 2003, gab die Parteiführung bei einer Klausurtagung im Januar in Leipzig bekannt. Die Lage der SPD ist bedrohlich in einem Jahr, in dem etliche Landtags- und Kommunalwahlen und die Europawahl bevorstehen.

Es wirkte wie eine konzertierte Aktion, um zu retten, was noch zu retten ist, als in der vorigen Woche Parteilinke aus verschiedenen Landesverbänden in die Offensive gingen und Schröder attackierten. Der Fraktionsvorsitzende der niedersächsischen SPD, Sigmar Gabriel, forderte ein sozialeres Profil der Partei, der niedersächsische Parteivorsitzende, Wolfgang Jüttner, schlug eine Kabinettsumbildung vor. Die hessische Landesvorsitzende, Andrea Ypsilanti, legte in der Rheinischen Post dem Kanzler nahe, den Parteivorsitz abzugeben.

Und das tat Schröder dann auch. Auf der Pressekonferenz am vorigen Freitag, als er seinen Rücktritt als Parteivorsitzender bekannt gab, wirkte er wie ein angezählter Boxer. Er scheint den Höhepunkt seiner Karriere hinter sich zu haben und seinem vor der letzten Bundestagswahl beschriebenen Traum, in ein Appartement nach New York zu ziehen, näher zu kommen.

Nun soll Franz Müntefering für bessere Stimmung sorgen und die unsoziale Politik besser »vermitteln«, damit die Wähler und die Mitglieder die SPD wieder besser verstehen. Der als links geltende Klaus Uwe Benneter soll als neuer Generalsekretär offenbar bei den Linken um Zuneigung werben. (Siehe nächste Seite.) Dass ihnen das gelingt, ist jedoch unwahrscheinlich. Mit Sätzen wie diesen, die Müntefering kürzlich im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagte, wird auch er die Gunst der Wähler nicht zurückerobern: »Wir stehen ja in Deutschland nicht vor einer Hungersnot. Wenn ein bisschen Wachstum kommt, wenn die Tage wieder länger sind und die Sonne scheint, werden die Leute erkennen, dass es uns so schlecht nun wirklich nicht geht.« Auch die Hoffnung auf den Aufschwung erinnert an die Jahre der Kohl-Ära.

Müntefering kündigte auf der Pressekonferenz am vergangenen Freitag bereits an, was der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) von ihm erwarten, nämlich dass die Reformen weitergingen. »Wir müssen jetzt den Mut haben, Dinge zu tun und nach vorne zu bringen, auch wenn sie manchem schwerfallen«, sagte er. »Das Wichtige tun« nennt die Partei das in ihrem aktuellen Slogan.

Müntefering ist als einer der führenden Wichtigtuer auch ein begnadeter Schönredner. »Wir sind im letzten Jahr ein gutes Stück vorangekommen. Wenn man sich die Stimmungslage und die Debatten im Land heute anguckt und sie vergleicht mit denen vor einem Jahr, weiß man: Fast alle haben inzwischen begriffen, es muss sich vieles ändern«, zeigt er sich überzeugt. Der Bericht von seiner Tour durch die SPD-Landesverbände im Januar, den er dem Präsidium der SPD vorlegte, hörte sich anders an. Selbst er, der in der Partei hoch Geachtete, bekam vor Ort den Zorn der Basis zu spüren.

Die Führung der SPD musste einsehen, dass all das Gerede über die Innovation nun auch nichts mehr hilft. Unter diesen Begriff wollte man das neue Jahr stellen, um ein wenig abzulenken von dem sozialen Desaster, das man im letzten anzurichten sich entschloss. Und immer wieder betont die Parteiführung neuerdings, dass vor allem auch die Freiheit einer der Grundwerte der Sozialdemokratie sei, wohl weil das Soziale gerade in den Hintergrund rückt. Tatsächlich macht die SPD derzeit eher eine freidemokratische Politik denn eine sozialdemokratische.

Es gibt keinen Weg aus der Sackgasse, die die SPD beschritten hat. Die Agenda 2010 kann sie nicht zurücknehmen, und mit einem spürbaren Absinken der hohen Arbeitslosenzahlen ist so schnell nicht zu rechnen. Ein sozialeres Profil aber lässt sich nicht herbeizaubern. Zu rücksichtslos ist die SPD mit ihren Reformen gegen das eigene Milieu vorgegangen. Heute wünschen sich viele eingefleischte Sozialdemokraten lieber die vermeintlich sozialere Angela Merkel als Kanzlerin als noch länger Gerhard Schröder.

Auch die nun wieder diskutierte Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe oder die Reform der Erbschaftssteuer werden auf die Schnelle die Wähler nicht zur Sozialdemokratie zurücktreiben. Schröders linksnationalistischer dritter Weg ist gescheitert. Immer mehr SPD-Politiker stellen inzwischen in Frage, ob Schröder der geeignete Spitzenkandidat der Partei für die Bundestagswahl im Jahr 2006 sei.

Ein Grund zur Trauer ist das selbstverständlich nicht. Niemand grämt sich, wenn die SPD sich von Schröder trennt wie von einem »septischen Bein«, wenn der Kanzler sich auf »Staatsflucht« begibt und nun »wie ein losgerissener Fesselballon über Deutschland« schwebt, wie Bild die Ereignisse beschrieb.

Aber die Zumutungen für die Erwerbslosen und die ärmeren Teile der Bevölkerung werden weitergehen. Die Bedingungen für eine kommende von den Konservativen geführte Regierung, egal ob in einer Koalition mit den Grünen oder der FDP, könnten nicht besser sein. Die SPD hat den Sozialabbau derart vorangebracht, dass sie in Zukunft unsoziale Maßnahmen der CDU nicht glaubhaft kritisieren kann. Die rot-grüne Bundesregierung hat eine tief greifende Desavouierung linker, parlamentarischer Politik bewirkt. Drastischer konnten es die beiden Parteien nicht demonstrieren, dass es nahezu ohne Belang ist, wer die Republik regiert, da die Vorgaben sowieso aus der Wirtschaft kommen und ihre Umsetzung von Unternehmensberatern wie Roland Berger entworfen wird.

Aber auch die Hoffnung auf eine Renaissance außerparlamentarischer Politik könnte sich als illusorisch erweisen. Nichts spricht im Moment dafür, dass eine starke linke außerparlamentarische Bewegung enstehen könnte, die einer Regierung entschieden Paroli bietet. Dass so viele Linke auf das Netzwerk Attac mit seinen im Kern sozialdemokratischen Forderungen setzen, ist ein schlechtes Zeichen. Die Folge der rot-grünen Regierung könnte im Titel eines Theaterstücks von Christoph Schlingensief prophetisch vorweggenommen sein: »100 Jahre CDU«.