Der bedrängte Priester

Während die Nachbarstaaten sich um einen Kompromiss bemühen, setzt die bewaffnete Opposition in Haiti ihren Vormarsch fort und ist schon kurz vor der Haupstadt angelangt. von hans-ulrich dillmann, santo domingo

Aristide ist ein Populist«, sagt Gérard Pierre-Charles, Gründer der Organisation Populaire de Lutte (OPL). Der 69 Jahre alte Soziologieprofessor, der während der diktatorischen Ära Duvalier 28 Jahre im Exil verbrachte, hat sich vor Jahren von seinem einstigen Weggefährten Jean-Bertrand Aristide distanziert. Mit gemäßigten ehemaligen Anhängern Duvaliers und linken Gegnern Aristides gründete er die Convergence Démocratique. »Aristide ist ein Mann des 19. Jahrhunderts, archaisch.« Für den 50jährigen Staatspräsidenten von Haiti sei Politik ein machiavellistisches Spiel, basiere auf Lügen und Korruption, erklärt Pierre-Charles, um dem Besucher auf der Veranda seines Hauses in Pétionville das Phänomen Aristide zu erklären. »Aristide«, sagt die »graue Eminenz« der selbst definierten gewaltfreien Opposition, »ist ein Magier.«

Seit Jahren fordert die gemäßigte Opposition Aristides Rücktritt. Und seit zwei Wochen zieht eine bewaffnete Heerschar durch den Norden des »Landes der Berge«. Jetzt könnte Aristide seinen Ruf als Magier erneut mit einem weiteren Zauberkunststückchen untermauern, das dem bereits von vielen Totgesagten doch noch sein Verbleiben bis zum Ende seiner Amtsperiode am 7. Februar 2006 garantieren könnte.

Wenn Aristide einen neuen Premierminister berufe, sein Kabinett umbilde und dabei auch Oppositionsvertreter berücksichtige, werde er von der internationalen Gemeinschaft als rechtmäßiger Staatspräsident von Haiti anerkannt, und es werde ihm dabei geholfen, sein noch zwei Jahre dauerndes Mandat bis zum Ende auszuüben. Aristide würde einen Teil seiner Machtbefugnisse abgeben. Mit diesem Angebot flog eine internationale Vermittlerdelegation nach Port-au-Prince, um einen Ausweg aus der innenpolitischen Krise zu suchen.

Aristide akzeptierte die Offerte, die von der Karibischen Staatengemeinschaft (Caricom) in enger Abstimmung mit den USA, Kanada und Frankreich bereits vor Wochen ausgearbeitet worden war, am Samstag. Nur einige Stunden zuvor hatten fast alle führenden Oppositionsvertreter ihre Ablehnung bekundet. »Ich akzeptiere den Plan vor der Öffentlichkeit und in seiner Gesamtheit. Wir haben dies auch schriftlich niedergelegt«, sagte der Staatschef am Samstagabend (Ortszeit).

Diplomatisch äußerten sich der Außenminister der Bahamas, Fred Mitchell, in Vertretung der Caricom-Länder und George W. Bushs Sonderbeauftragter für Lateinamerika, Roger Noriega, vor der Presse. »Der Präsident hat zugesagt, auf der Grundlage des existierenden Plans und der Antwort der Opposition zu handeln«, sagte Mitchell. Auf Bitten der Vermittlungsdelegation erklärten sich die Vertreter der Demokratischen Plattform dann doch noch bereit, den Plan erneut zu beraten und Alternativvorschläge zu machen. »Wir haben kein Ja, aber auch kein Nein erhalten«, versuchte Mitchell das vorläufige Scheitern schön zu reden.

Im Gegensatz zu dem Zweckoptimismus der internationalen Vermittler haben nämlich alle namhaften Oppositionsvertreter in einer Erklärung Kritik an dem Caricom-Plan geäußert. Sie fordern die Einsetzung des Präsidenten des Obersten Verfassungsgerichtes als Interimsregenten, die Berufung eines neuen Premierministers und eines neunköpfigen Rates der Weisen, der sowohl dem Regierungschef als auch dem provisorischen Staatspräsidenten mit Rat zur Seite stehen soll. Da die Amtsperiode des Parlaments bereits abgelaufen ist, soll ein Wahlausschuss Neuwahlen in 18 Monaten vorbereiten.

Aber vor allem fordert die Oppostion unversöhnlich den sofortigen Rücktritt Aristides. »Aristide ist die Ursache für die Probleme, die wir haben«, sagte der Sprecher der Gruppe der 184, eines Bündnisses aus Bürgerinitiativen, Unternehmerverbänden, feministischen Gruppen und NGO in Haiti.

»Der Plan hat viele Schwächen«, sagte Evans Paul, der ehemalige Weggefährte von Aristide und frühere Bürgermeister von Port-au-Prince. Er habe der internationalen Delegation deutlich gemacht, dass es ohne den Rücktritt Aristides keine politische Einigung mit der Opposition geben werde, sagte Evans. Aristide habe die Entstehung militanter Banden gefördert, die die Bevölkerung terrorisieren, Oppositionelle ermorden, politische Parteien einschüchtern und versuchen, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. »Er hat gelogen und Versprechungen gemacht, die er nicht eingehalten hat. Er hat uns reingelegt. Aber nicht nur uns«, sagt Pierre-Charles. »Es geht um unsere Glaubwürdigkeit.«

Die USA befürchten einen Massenexodus von haitianischen Boat People und wollen deshalb die Situation befrieden. Szenen wie die von der Landung von 200 Armutsflüchtlingen an einem Strand in Florida, ganz in der Nähe von Miami, gehören zu den Horrorszenarien bei den Planspielen über die Konsequenzen der sich zuspitzenden Krise. In der Dominikanischen Republik fordern Politiker und Kommentatoren eine militärische Intervention in der Nachbarrepublik. Die Bevölkerung Haitis drohe, so die Warnungen, das Land zu überschwemmen. Angesichts von Hyperinflation und leeren Staatskassen könne man die Konsequenzen der »sozialen und wirtschaftlichen Zersetzung Haitis« nicht tragen, warnt der Parteivorsitzende der neoliberalen Befreiungspartei, Leonel Fernández.

Der wirklich große Unsicherheitsfaktor hat sich rund 160 Kilometer weiter nordwestlich von Port-au-Prince hinter Barrikaden verschanzt. Seit mehr als zwei Wochen beherrscht die Revolutionäre Widerstandsfront das Zentralplateau und das Departement Artibonite. 20 Städte befänden sich inzwischen unter ihrer Kontrolle, erklärte der Sprecher der Front, Winter Etienne. Die Gruppe ist ein Sammelsurium aus ehemaligen Lavalas-Anhängern, die sich einst Kannibalenarmee nannten, ehemaligen Gefolgsleuten Duvaliers und Mitgliedern von Todesschwadronen, die für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur von 1991 bis 1994 verantwortlich gemacht werden.

Inzwischen haben sich die Aufständischen einen neuen Namen gegeben: Front für die Befreiung und den nationalen Wiederaufbau. Zum militärischen Oberbefehlshaber wurde der ehemalige Polizeiverwaltungschef von Cap Haïtien berufen; Guy Philippe soll die bewaffneten Aktionen der Gruppe koordinieren. Am Sonntag brachte die Front die zweitgrößte Stadt des Landes, Cap Haïtien, unter ihre Kontrolle.

Faktisch ist Haiti nun zweigeteilt. Die Rebellen der Front haben, da sie nicht in die Verhandlungen über einen Friedensplan einbezogen wurde, gedroht, auch die Hauptstadt Port-au-Prince einzunehmen. In den nördlichen Außenbezirken kam es zu ersten bewaffneten Scharmützeln.

Aber während sich Aristide mit seiner Verhandlungsbereitschaft als einzige Alternative darstellt und der internationalen Vermittlungskommission eine entschiedene Bekämpfung der »Terroristen aus dem Norden« verspricht, scheint die »gewaltfreie« Opposition zwischen den beiden Polen erdrückt zu werden. Der Sieger könnte der alte Magier sein.

Fast bekommt man den Eindruck, das Drehbuch für dieses Szenario sei im Präsidentenpalast selbst geschrieben worden. Aristide rettet die Nation vor jenen Militanten, die er einst bewaffnet hat, um die Opposition klein zu halten. Angesichts einer Polizeitruppe mit lediglich 5 000 Mitgliedern könnten jene westlichen Länder, die noch vor wenigen Monaten Aristides Rücktritt als Ausweg aus der politischen Krise empfohlen hatten, gezwungen sein, ihm brüderlich mit Waffengewalt zur Seite stehen.