Es gewinnt das kühle Grausen

Ole von Beust geriert sich als der beliebteste Hamburger, sein Rivale von der SPD will härter durchgreifen als Schill. Die Abgründe der Hamburger Politik skizziert rainer trampert

Das Tiefgründige der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft am kommenden Sonntag ist ohne Zweifel das »Ole-Phänomen«. Überall stehen Plakate mit seinem Konterfei, daneben liest man die Worte: »Michel, Alster, Ole«. Alles weitere wäre auch überflüssig. Nur Fremdenführer grübeln. Was sollen sie japanischen Reisegruppen, die höflich um Übersetzung bitten, antworten? Sie werden sagen, »Michel« sei eine Kirche, das alte Wahrzeichen Hamburgs, »Alster« ein Fluss, der sich zu einem See staut, auf dem Segelschiffe kreuzen, und »Ole« eben der Bürgermeister.

Aber das trifft es nicht. Das Plakat sagt: Auf euch blickt der beliebteste Bürgermeister in der Geschichte der Hansestadt. Einer, der nicht nur von der desolaten SPD profitiert, sondern dem die Herzen der Hamburger zufliegen. Es sagt: Der Ruf der Politikerkaste ist ruiniert, aber Ole ist immun. Ihm wird nichts krumm genommen, wie Hans Albers oder Uwe Seeler, der vor Weihnachten von Beust zum Ehrenbürger ernannt wurde.

Das Phänomen Ole

Ole von Beust darf schwul sein, mit dem Rassisten und Bestrafungsfanatiker Ronald Schill im Männerscherz vereint sein, seine Amtszeit darf durch Intrigen, Ministerentlassungen und unflätige Reden geprägt sein und er muss keine Erfolge vorweisen. Die Arbeitslosenzahl stieg kräftiger als im Bund, und Hamburg ist nicht sicherer geworden. Fahrräder werden wie eh und je geklaut, Knackis brechen munter aus, Banden lassen sich ihr Geschäft von blauen Uniformen, die einen Hauch von New York an der Alster verbreiten sollten, nicht vermiesen. Im Übrigen verstreut er Junkies über die Stadt und behandelt, wie vor ihm der rot-grüne Senat, Asylbewerber wie Verbrecher und runiert soziale Einrichtungen.

Er will sogar städtische Krankenhäuser an private Kapitalisten verscherbeln, was 80 Prozent der Hamburger in Todesangst versetzt. Doch sie mögen ihn. Zwei Drittel finden ihn »sympathisch«, darunter jeder zweite Getreue der SPD und 36 Prozent der Anhänger der Grün-Alternativen Liste (GAL). Dürften Hamburger ihren Bürgermeister direkt wählen, würden 60 Prozent für ihn und nur 24 Prozent für den sozialdemokratischen Herausforderer Thomas Mirow votieren. Eine neue Qualität im Ringen um Gleichberechtigung. In Berlin geht der Eliteschwule als Repräsentant eines »Linksbündnisses« durch, in Hamburg ist er Staatsmann für Law and Order. Doch das Vorurteil ist zäh. Was so mühelos anmutet, hat seinen Preis.

Der Kandidat muss einen gestandenen Hanseaten abgeben und mit der Wirtschaft genauso gut können wie mit dem Rechtsextremismus. Darunter läuft nichts in dieser weltoffenen Stadt, in der jeder Fünfte sich rassistische und andere Wahnvorstellungen an der Macht wünscht. So gesehen hat der Pakt mit Schill das Ansehen des Bürgermeisters genauso gesteigert wie seine Aufkündigung. Schill bediente die Verfolgungslust seiner Wähler und der Springerpresse, die ihn mit der Kampagne »Hamburg, tu endlich was!« gepuscht hatte. Aber es gefiel ihnen nicht, dass er das Image eines Hallodris bekam und bei Instanzen, um deren Bestätigung der autoritäre Charakter nachsucht, in Ungnade fiel. Er sollte ihr Ansehen mehren, gab jedoch ihre abgründige Psyche der Lächerlichkeit und Unzuverlässigkeit preis.

Das Bündnis Pro DM/Schill liegt in den Umfragen unter fünf Prozent. Das Ergebnis mag nachher höher sein, weil bürgerliche Rassisten und Rechtsextreme sich häufig erst in der Wahlkabine bekennen. Aber die meisten der ehemals 19,4 Prozent der Wähler kehren Schill den Rücken, um nicht aufzufallen. Man will nicht dabei gewesen sein und wartet auf eine seriösere Gelegenheit. Sie werden Beust wählen, weil er bewiesen hat, dass ihm Schills Anliegen ernst sind, und im entscheidenden Moment schneller zog als der abgehalfterte Desperado. Eine prächtige Bürgertugend: Man kann mit jedem, lässt sich aber nicht beleidigen. Das schafft nur ein Kerl. Unvorstellbar, dass eine Lesbe den Polizeipräfekten hätte rauswerfen können, ohne dass Männer ihr Kollektiv bedroht gesehen hätten.

SPD im Bobby-Car

Eine Woche vor der Wahl stellte das ZDF-Politbarometer der CDU 47 Prozent und der SPD 29 Prozent der Stimmen in Aussicht. Thomas Mirow finden nur 23 Prozent sympathisch, obwohl er überall lausbübisch auf einem Bobby-Car für Dreijährige sitzt. Die politische Stimmung hat sich gegen die SPD gewendet. Die einen klagen über Reformblockaden, die anderen fühlen sich betrogen, weil die SPD und die Grünen dem Kapital Milliarden zuschustern, die ihnen genommen werden. Wer erlebt hat, wie ein hilfloser Genosse am Valentinstag aufgebrachten Rentnern mit Rosen nachlief, versteht die Parteiaustritte. Der Trick mit dem »kleineren Übel«, auf den die SPD sich verlassen konnte, solange die Privatisierung der Lebensrisiken ein Steckenpferd von CDU und FDP zu sein schien, funktioniert nicht mehr. Im Lichte rot-grüner oder rot-roter Gemeinheiten scheinen auch Allianzen mit dem Rechtsextremismus immer harmloser. Was war in Hamburg vor Schill anders? Guckt doch nach Berlin!

Alle Parteien wollen dasselbe, aber nur die SPD wird zur Rechenschaft gezogen. Nicht zu Unrecht, denn sie erledigt wieder die Drecksarbeit. Als sie ihren vaterländischen Pflichten nach dem Ersten Weltkrieg nachkam, sprach ihr Polizeiminister Gustav Noske fatalistisch vom Bluthund, den einer spielen müsse. Kanzler Schröder sagt: »Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?«

So schicksalhaft ist die Lage nicht. Das Ausland kauft mit Begeisterung deutsche Waren, und solange das Sozialprodukt wächst, wäre jedes Jahr mehr zu verteilen. So funktioniert der Kapitalismus aber nicht. Das Anwachsen der staatlichen Schulden und Sektoren zeigt langfristig den Niedergang des Profitsektors an, und die Versorgung von Arbeitslosen, Kranken und Rentnern blockiert den Weg zur Weltspitze, weil sie keinen Mehrwert erzeugen, sondern nur Werte verzehren, die das Kapital sich als Profit aneignen möchte.

Die SPD ist für solche Aufgaben gut geeignet. Sie schafft den sozialen Aderlass demonstrationsfreier und zieht sich dabei selbst aus dem Verkehr. Auch der Blick zurück hilft ihr nicht. In Großbritannien übertrug Maggie Thatcher dem Labour-Vorsitzenden Tony Blair ein von Gewerkschaftseinflüssen und Altindustrien gereinigtes Haus voll armer Menschen, so dass er nicht alles auf seine Kappe nehmen musste. Helmut Kohl war darauf bedacht, Ehrungen für die Wiedervereinigung einzuheimsen. Er verfolgte die Senkung der Sozialtransfers nur halbherzig und hinterließ in ihrer Selbstversorgung auf das Niveau von Griechenland gebrachte Ostdeutsche, deren Alimentation die reichen Regionen im Lande zusätzlich belastet.

Was macht die Hamburger SPD angesichts dieser Misere? Sie greift in die Jauchegrube. Mirow steht »für Härte gegen Kriminalität«, für »mehr Polizei auf Hamburgs Straßen« und »einen Ordnungsdienst, der seinen Namen verdient«. Man wird »Dealer verfolgen, keine offene Drogenszene zulassen« und Kinder in »geschlossene« Anstalten bringen, »die ihren Zweck auch erfüllen«.

Das Signal lautet: Schills Anliegen sind bei uns besser aufgehoben als bei Ole von Beust. Dazu appelliert Mirow an die Schwulenfeindlichkeit. Beust habe »kein Gespür für Familie und Kinder«, betont er oft, während er als Familienvater mit zwei Töchtern wisse, »wie schwierig das Leben junger Familien in Hamburg ist«. Ahnungsvoll fügt er hinzu, dass Beust der »einzige Ministerpräsident zu sein scheint, der sich für diese Themen nie wirklich interessiert«.

Zum Hohn wird der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, durch Schwulen-Bars gehetzt, wo er gemeinsam mit der Drag-Queen Olivia Jones beanstandet, dass »Ole von Beust auch heute noch nicht in der Lage ist, zu seiner Homosexualität zu stehen«. Und um die Herzen der Lokalpatrioten zu erwärmen, will Mirow Beamte aus dem Umland zum Zwangswohnen in Hamburg verpflichten, damit ihre Steuern in der Stadt bleiben. Er kann sich »vorstellen, dass auch Unternehmen von ihren Mitarbeitern verlangen, hier zu wohnen und hier ihre Steuern zu zahlen«.

Die GAL erhielt bei der letzten Wahl 8,6 Prozent der Stimmen. Jetzt werden ihr 13 Prozent vorhergesagt. Was die SPD erschüttert, kommt der GAL zugute. Die Grünen sind als Modernisierer akzeptiert. Keine Abstriche an der Agenda 2010! Sozialpolitische Rücksichten sind überflüssig, denn grüne Wähler merken entweder nichts mehr oder ihr Einkommen macht sie resistent gegenüber Lebensrisiken. Zehn Euro für den Arztbesuch werfen sie locker über den Tresen. Selbst das Dosenpfand betrifft das Bier der Armen. Die Grünen wissen, was sie ihren Wählern schuldig sind: das Gefühl, sich Sorgen zu machen über das Schicksal der Schwachen, und die Garantie, dass diese zur Ader gelassen werden.

Die Diskussion um schwarz-grüne Länderregierungen ist konsequent. Hamburg könnte das Pilotprojekt sein. Die Spitzenkandidatin der GAL, Christa Goetsch, schließt eine Koalition mit der CDU nicht aus. Das werde »der Wähler entscheiden«. Laut Politbarometer finden fast 60 Prozent der grünen Wähler Spekulationen über eine Koalition mit der CDU »gut«, weiteren 17 Prozent ist das »egal«. Im Übrigen verliert man über die geplante Ausweisung afghanischer Flüchtlinge kein Wort, will mit der CDU und der SPD eine Eliteuni nach Hamburg holen, und Renate Künast spricht zum Thema: »Macht gesundes Essen schlau?«

Am Ende des Regenbogens

Für linke Wähler bietet sich der Regenbogen an, ein Bündnis ehemaliger GAL-Mitglieder mit der PDS, der DKP und anderen. Mit Aussicht auf 0,3 Prozent hätte das Bündnis die Freiheit, einfach gegen das zu sein, was die anderen treiben, und von taktischen Überlegungen unbelastete, eigene Überzeugungen zu äußern. Damit steht es leider nicht zum Besten. Entweder fehlt die Einsicht oder das Bündnis ist für diese Freiheit noch zu groß. Die Spitzenkandidatin Heike Sudmann jubelt: »Zwei Jahre Schwarz-Schill in Hamburg und fünf Jahre Rot-Grün in Berlin haben ein Wunder bewirkt. Die linken Kräfte in Hamburg sind nicht mehr zersplittert, sondern sich einig.« Das Wunder ist noch größer, denn auf Rot-Grün folgte in Berlin noch eine SPD/PDS-Regierung, die man nicht vergessen sollte, weil sie es spielend mit den Agenda-Parteien aufnehmen kann. Auch in der Wahlplattform des Regenbogens geht es nur gegen »Agenda-Parteien von Rot-Grün bis Schwarz-Gelb«. Wer Regierungen, an denen die PDS beteiligt ist, aus der Kritik ausspart, verschweigt den »linken« Klebstoff fürs Falsche.

Dabei bekennt Stefan Liebich, der Berliner Landes- und Fraktionsvorsitzende der PDS freimütig: »Wir haben ein Wahlprogramm geschrieben, in dem steht, dass es (…) in Berlin notwendig sein wird, Einschnitte vorzunehmen. Wir haben das vorher klar gesagt. Und es war richtig, sich der Verantwortung zu stellen.« (Jungle World, 7/04) Wo ist der Unterschied zu den Agenda-Parteien? Der letzte Parteitag der PDS beschloss sogar: »Unternehmerisches Handeln und Gewinninteresse sind wichtige Voraussetzungen für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.«

Nicht nur dafür. Gewinninteresse ist die Voraussetzung für die Ausbeutung von Menschen, und unternehmerisches Handeln ist die Selektion von Stark und Schwach in permanenter Konkurrenz. Das Bündnis mit einer Partei, die sich zum Sozialdarwinismus bekennt und ihn praktiziert, als linke Einheit zu feiern, ist happig, auch wenn die lokale Sektion dafür nicht unmittelbar verantwortlich sein sollte.

In Wahrheit ist es mit dem Wunder linker Einigkeit nicht weit her. Am Ende der Plattform wird offenbart: »Einige von uns sind überzeugt, dass sich die meisten Probleme (…) innerhalb des kapitalistischen Systems nicht grundlegend und dauerhaft lösen lassen, weil sie Produkte desselben sind. Einige von uns sehen das nicht oder nicht ganz so.« Einige haben sich leider nicht durchsetzen können, denn man bastelt am System wie der Heimwerker auf dem Dachboden.

Die FDP wird ausgebremst mit der Forderung nach dem »Ausbau der Steuerprüfungen«. Der »Rosengarten in Planten un Blomen«, ein Park mit Blumen, Enten, betonierten Einfassungen und Wasserfontänen, die nach Smetanas »Moldau« auf und nieder hüpfen, soll bleiben, weil er »den Menschen gehört, die hier leben«. Der Garten, der Besuchern aus China ebenso gehören sollte, ist aber gar nicht gefährdet, weil er in der Bürgerschaft von der SPD, der Schill-Fraktion und der GAL gegen die Stimmen von CDU und FDP gerettet wurde.

Die Rüstungsproduktion soll auf zivil umgestellt werden, »ohne Verlust von Arbeitsplätzen«. Als gäbe es nichts Schöneres, als auf der Werft zu arbeiten. Ich will selbstkritisch daran erinnern, dass wir vor 20 Jahren in der damals linken GAL den Wählern versprachen, die SPD zu tolerieren, um die CDU zu verhindern. Zwar zu nicht einlösbaren Bedingungen, aber doch ihrem Wunsch gehorchend, wir mögen ganz vernünftig sein. Auch wir haben im Sandkasten Schiffe mit mehreren Kammern gebaut und dafür Kollegen viel Arbeit versprochen. Aber muss denn jeder Mist noch unterboten werden? Offenbar! Wer in einer Weltmacht die Rüstung beseitigen will, wird die Bewusstseins- und Machtverhältnisse total umkrempeln und darüber sprechen müssen. Für den Regenbogen erfordert Demokratie aber nur »die Ausweitung der Mitbestimmung (…) Nicht zuletzt erfordert sie den Ausbau der Volksgesetzgebung.«

Mitbestimmung ist die Beschlagnahme des Bewusstseins für die Reproduktion des Ganzen bei Akzeptanz des Kapitaleigentums als Entscheidungsinstanz. Aus Scham wird die Volksgesetzgebung »ausgebaut«. Das Volk aber ist das Volk und bleibt das Volk, einschließlich aller Verwandten, Kapitalisten, Rassisten, Antisemiten und wer noch dazu gehört. Danach sollen »wir uns« populistisch »gegen die Selbstentmachtung der repräsentativen Politik« wenden, weil heute »immer mehr Entscheidungen (…) in Expertenkommissionen« verlegt werden. Es wird einem nicht leicht gemacht. Zuerst die Kapitalverwalter, danach das Volk, schließlich soll nur die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers gegen die von ihm einberufenen Kommissionen beschützt werden.

Dieses Bekenntnis passt zu einem anderen: »Dass die Bundesregierung sich der aktiven Teilnahme am Irakkrieg verweigert hat, ist begrüßenswert.« Hier haben Leute die Feder geführt, denen der deutsche und europäische Imperialismus am Herzen liegt. Die Bundesregierung ist dem Krieg nur ferngeblieben, weil die von den USA angeführte Kriegskoalition unter anderem deutsches, französisches und russisches Kapital sowie Einflüsse dieser Nationen aus der Region entfernen wollte. Die Regierung begann in purer imperialistischer Absicht damit, ein kontinentaleuropäisches Bündnis zu schmieden, das irgendwann imstande sein soll, den USA Paroli zu bieten. Deshalb durften Deutsche, angeführt von den Medien, mal so richtig die antiamerikanische Sau rauslassen. Jeden Krieg zur Ausdehnung des nationalen Machtbereichs hätte die Regierung mitgemacht. Dafür zu danken, offenbart alles Mögliche, aber keine linke Vision.

Der Regenbogen buhlt derart um seine Unwählbarkeit, dass man ihm den Wunsch vielleicht erfüllen sollte. Wen es in die Wahlkabine drängt, mag sich am Volksentscheid gegen den Verkauf der Krankenhäuser beteiligen, der am Wahltag ebenfalls angeboten wird. Beust wird das kaum schaden. Er hat »seinen« Hamburgern rechtzeitig versprochen, sich »nicht kaltschnäuzig und überheblich« über ihr Votum hinwegzusetzen, und der Initiator Verdi wäre auch mit 49 Prozent Kapitalbesitz einverstanden. Vielleicht ist das nur ein Trick, denn Unternehmer, die sich an Kranken bereichern wollen, werden sich damit kaum zufrieden geben.