Was holen in Polen

Die deutschen Konzerne können mit der polnischen Wirtschaftspolitik zufrieden sein. Der EU-Beitritt lässt auf weitere Gewinne hoffen. von xandi korb und stefan link

Zuerst einigte man sich aufs Prinzip, und das heißt Liberalismus. Freie Bewegung für Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräfte und Kapital: so lauten die ersten vier von 31 Verhandlungspunkten, die seit der Unterzeichnung im vergangenen April den Bestand des EU-Erweiterungsvertrages bilden. Allerdings ist die Bewegungsfreiheit einseitig angelegt. Auch nach dem 1. Mai 2004, wenn Oder und Neiße innerhalb des EU-Binnenmarktes liegen, wird es leichter sein, sich von Deutschland nach Polen zu begeben als umgekehrt. Für den Kapitaltransfer gilt das schon seit 1994, als im Europa-Abkommen die Handelsassoziation Polens an die EU festgelegt wurde.

Mit Investitionen in Milliardenhöhe haben deutsche Unternehmen ihre Erweiterung in Richtung Polen bereits vollzogen. Der MAN-Konzern baute in Starachowice ein Werk. Volkswagen lässt derzeit eine der weltweit größten Karosseriepressen in Wrzesnia errichten. Der deutsche Stromkonzern RWE sicherte sich bereits Anteile im Wert von knapp sieben Milliarden Euro aus der Verkaufsmasse des ehemals staatlichen Energiekonzerns. Die Metro-Handelskette ist inzwischen der zweitgrößte Arbeitgeber in Polen. »Wer jetzt nicht da ist, kommt sowieso zu spät«, sagt Rüdiger Pohl, Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle. Die Welt am Sonntag sekundiert, »der große Marsch in den goldenen Osten« sei bereits weitgehend abgeschlossen.

Polen bietet, was Investoren reizt: Steuervergünstigungen für Unternehmen, eine ausgebaute Infrastruktur, schwache Gewerkschaften und geringe Lohnkosten. Das Lohnniveau lag 2002 in Polen bei 29 Prozent des bundesdeutschen Durchschnitts. Gleichzeitig sind 19 Prozent aller erwerbsfähigen Polen ohne Arbeit. Der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, reicht das allerdings noch nicht. Sie beklagt das angeblich immer noch hohe Niveau der Löhne und die geringe Flexibilität der Arbeitskräfte.

Wie unflexibel polnische Arbeiter sein können, demonstrierten etwa die Beschäftigten des Kabelwerks im Warschauer Vorort Ozarów. Als das Werk nach dem Verkauf an die polnische Telefonika stillgelegt werden sollte, besetzten die Arbeiter kurzerhand den Betrieb und verhinderten den Abtransport der Maschinen.

Als schwer liberalisierbar gilt auch die polnische Landwirtschaft, in der 20 Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt sind. Im ländlichen Süden von Polen wirtschaften viele Landwirte nur für den eigenen Lebensunterhalt, ohne reelle Chance, eine auf Handel basierende Produktionsweise einführen zu können. Spätestens ab dem 1. Januar 2007 sind Bauernhöfe verpflichtet, Kühlhäuser zu bauen, um den europäischen Hygienestandards für Lebensmittel zu entsprechen. Viele werden deswegen gezwungen sein, ihre Höfe aufzugeben und das Land an größere und kapitalkräftigere Agrarproduzenten zu verkaufen. Einer staatlichen Studie zufolge werden von derzeit zwei Millionen Bauernhöfen nur 600 000 den EU-Beitritt überleben.

Ähnlich hart trifft der Beitritt Molkereien und Wurstfabriken. Für viele der 1 400 polnischen Molkereien und 3 800 Fleischbetriebe übersteigt der Einbau von modernen Anlagen die Grenzen ihrer Expansionsfähigkeit. Schätzungen gehen von etwa 1 500 Fleisch verarbeitenden Betrieben aus, die schließen müssen. Zwei Millionen polnische Landbewohner müssten sich im schlimmsten Fall eine neue Beschäftigung suchen.

Die ehemaligen Bauern und Arbeiter müssten dafür in die Städte oder in Richtung Westen ziehen. Wer die Wohlstandsgrenze legal überschreiten will, wird sich allerdings noch einige Jahre gedulden müssen. Die Bundesrepublik hat gegenüber Polen und Tschechien siebenjährige Übergangsfristen bei der freien Arbeitsortswahl durchgesetzt. Bei offenen Stellen gilt eine strikte Bevorzugung von Bewerbern aus der künftigen »Alt-EU«.

Mit dem EU-Beitritt wird Polen auch Mitglied der Zollunion. Dadurch fallen alle Zölle auf Waren weg, die Polen in die EU exportiert. Von dieser Marktöffnung profitieren diejenigen, die im westlichen Warenangebot mitmischen können. Das sind vor allem westliche Unternehmen, die Teile ihrer Produktion nach Polen verlegt haben.

Um Arbeitsplätze im eigenen Land zu schaffen, bemüht sich die Regierung unter Premierminister Leszek Miller um eine investorenfreundliche Politik. Seit zwei Jahren gewährt der polnische Staat ausländischen Unternehmen, die in Polen Stellen schaffen, Zuschüsse bis 25 Prozent. Geplant ist zudem die Einführung eines einheitlichen niedrigen Einkommens- und Unternehmenssteuersatzes von 18 Prozent. Auch sollen die Lohnnebenkosten sinken. Um das zu erreichen, muss an der sozialen Absicherung gespart werden. Das von Wirtschaftsminister Jerzy Hausner im Januar vorgelegte Papier zum Sparprogramm der Regierung sieht bis 2007 eine Kürzung der Sozialausgaben in Höhe von etwa zwei Milliarden Euro vor.

Arme, niedrig Qualifizierte, Arbeitslose und ehemalige Landwirte gehören nicht zu den Gewinnern der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Polen vor dem EU-Beitritt verfolgt.

Auch Staatsangestellte sind von Kürzungen betroffen, manche wissen sich allerdings zu wehren. Anfang des Jahres verweigerten rund 10 000 staatlich bezahlte Ärzte ihren Patienten die Leistungen, um gegen Mehrarbeit bei gleichzeitigen Lohnkürzungen zu protestieren. Die Regierung zog darauf ihr Sparvorhaben zurück. Ärzte im staatlichen Gesundheitsdienst erhalten weit weniger als den polnischen Durchschnittslohn von 511 Euro.

Mit der Erweiterung am 1. Mai wird auch die erste Rate der EU-Beihilfen fällig, über deren Höhe die Europäische Kommission vor vier Wochen entschied. Im Zeitraum von 2004 bis 2006 sollen 5,76 Milliarden Euro in die beitretenden Länder fließen. Von dem Betrag entfällt auf Polen als größtes und bevölkerungsreichstes Beitrittsland knapp die Hälfte. Bei dem Geld aus den Kohäsions- und Strukturanpassungsfonds der EU handelt es sich allerdings nur zu einem geringen Teil um Beiträge zur sozialen Abfederung der kapitalistischen Liberalisierung. Der größte Teil der Ausschüttungen soll zum Ausbau der Infrastruktur sowie der polnischen »Absorptionsfähigkeit« verwendet werden. Gemeint ist damit der Aufbau einer Verwaltung, die die Nutzung der riesigen Geldmengen im Sinne der EU-Strukturanpassung erst ermöglicht - etwa um Kontrollen der Lebensmittelhygiene oder der freien Rechtsprechung zu schaffen.

Die Investitionserleichterungen der polnischen Regierung und die EU-Beihilfen zur Strukturanpassung werden bald Erfolge zeitigen, glauben optimistische Analysten. »Es wird ein Wirtschaftswunder geben«, meint Hans-Werner Sinn, der Direktor des Münchener Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo. Auch die polnische Regierung teilt die Zuversicht, dass eine wachsende Wirtschaft den Haushalt entlasten kann. Sie kündigte an, den Anteil der Neuverschuldung am Bruttoinlandsprodukt von jüngst sechs Prozent auf unter drei Prozent im Jahr 2008 zu drücken, um die Maastrichtkriterien zu erfüllen und das Knie zu beugen für den Ritterschlag erfolgreicher Integration: die europäische Gemeinschaftswährung. Andere geben sich skeptischer, etwa der Polenexperte der Deka-Bank, Dietmar Hornung. Bis Polen der Währungsunion beitritt, sagt er, werde es »noch ein Jahrzehnt dauern.«