Fähnchen im Sand

Das Schwenken der israelischen Flagge auf linken Demonstrationen in Deutschland zeugt von blankem Philosemitismus. von bernhard schmid

Ein Gemälde des spanischen Künstlers Francisco de Goya trägt den Titel »Der Schlaf der Vernunft erzeugt Ungeheuer«. Es zeigt einen Schlafenden, aus dessen Kopf eine Unmenge von Monstern, Fledermäusen und anderen ungemütlichen Gestalten aufsteigt.

An genau dieses Bild erinnert die Gespensterdebatte um das Mitführen israelischer, US-amerikanischer und britischer Staatsflaggen auf Demonstrationen, die derzeit in einem Segment der deutschen Restlinken geführt wird. Die Existenz und die Form dieser Debatte, über die Linke in anderen Ländern nur die Köpfe schütteln würden, erklärt sich nicht zuletzt aus der dramatischen Schwäche einer antiautoritären Linken in Deutschland nach 1989. Die volksgemeinschaftliche Formatierung der deutschen Gesellschaft wirkt eben bis heute nach.

Das ist kein Grund, selbst in völkischen Kategorien zu denken und dabei nur die Vorzeichen gegenüber dem, was man für die Mehrheitsideologie in der deutschen Gegenwartsgesellschaft hält, auszutauschen. So funktioniert die Sichtweise bestimmter Gruppen – die großenteils identisch sind mit jenen, die sich am 31. Januar in Hamburg mit ihren Flaggen an die Demonstrationsspitze zu setzen versuchten und dabei einen Eklat wohl einkalkulierten – auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, aber auch auf manche Balkankonflikte nach einem solchen Raster: Serben und Juden waren Opfer und Gegner der faschistischen und nationalsozialistischen Politik. Also handelt es sich um »gute Völker«, die von uns en bloc unterstützt werden müssen. Die ihnen entgegen stehen, sind dann ihr negativer Gegenpart als die »bösen Völker«.

Im Extremfall klingt das so wie in einer aktuellen Buchankündigung aus dem ça-ira-Verlag in Freiburg: »Vom Massaker in Sabra und Shatila will er (der Autor) nichts hören.« Um fortzufahren: »Den Kosovo-Palästinensern dagegen würde er gerne mal Arkan den Tiger zeigen«. Besagter Arkan war in Serbien ein Chef paramilitärischer Banden, aber zugleich auch organisierter krimineller Strukturen, der im Januar 2000 eines unnatürlichen Todes starb. Diese Gewaltphantasien, die man getrost als rechtsradikal bezeichnen darf, stammen von Karl Selent, einem ehemaligen Autor der Zeitschrift bahamas, die als eines der Verlautbarungsorgane der Flaggenfans gelten kann.

Aber konzentrieren wir uns nicht auf den extremen Rand – ebenso wie man aber auch darum bitten müsste, die Debatte um die Ursachen eines realen Konflikts wie dem im Nahen Osten nicht durch Verweis auf die extremen Positionen und Praktiken am einen oder anderen Rand abzubrechen. Beispielsweise ist die Methode der Selbstmordattentate klar und kompromisslos von Linken zu verurteilen, aber damit ist die Debatte um die Berechtigung politischer Forderungen aus der palästinensischen Gesellschaft noch längst nicht beendet.

Sprechen wir also nicht vom Gegeifer randständiger Autoren, sondern von der Sache selbst. Was deren Kern betrifft, so sind sich Ralf Schroeder und Jörg Kronauer, die in der letzten Ausgabe dieser Zeitung miteinander diskutierten, in Wirklichkeit weitgehend einig. Nur was die Form des Agierens angeht, haben sie unterschiedliche Ansichten.

Im Jahr 1991 schrieb in der vom Verlag ça ira herausgegebenen Zeitschrift Kritik und Krise einer der damaligen Vordenker der später so genannten Antideutschen namens Jürgen Elsässer. Er war damals maßgeblich beteiligt an einem innerlinken Paradigmenwechsel zum Nahostkonflikt, auch wenn er davon in jüngster Zeit abgerückt ist.

Damals schrieb er unter anderem: »Die Einstellung der Deutschen zu Israel – übrigens ziemlich unabhängig davon, ob in der Bevölkerung oder bei den Eliten – folgte in der gesamten Nachkriegsgeschichte einem gleich bleibenden Muster. Die Kontinuität des Antisemitismus wurde immer wieder dann sichtbar, wenn Israel seine Interessen ›gegen uns‹ anmeldete (›Wiedergutmachung‹, Verjährung von Nazi-Verbrechen, Kritik an Nazi-Kontinuitäten in Staat und Gesellschaft). Sympathien für den jüdischen Staat waren dann gegeben, wenn Israel ›für uns‹ agierte (so in den pro-westlich rezipierten Kriegen 1967 und 1973). Der Philosemitismus resultiert also nicht aus der Trauer über die von Deutschland an Juden begangenen Verbrechen, sondern hat den gleichen Ausgangspunkt wie der Antisemitismus: das ›deutsche Interesse‹.«

Diese Sätze sind auch heute noch gültig, auch wenn die weltpolitische Situation sich in den letzten 13 Jahren weiter entwickelt hat. Im Zuge der Bemühungen der EU, als eigenständiger Machtblock aufzutreten – der aber noch sehr weit entfernt davon ist, die USA offen herausfordern zu können –, ist die deutsche und europäische Politik darum bemüht, sich im Nahen Osten als »ehrlicher Makler« und Vermittler anzubieten, der leichter akzeptiert werde als die »parteiischen« USA. Das ist tatsächlich eine teilweise neue Entwicklung.

Nur: Es ist absurd anzunehmen, dass diese Politik auf eine offene Frontstellung gegen Israel und seinen Verbündeten hinaus laufen werde, wie auch Jörg Kronauer implizit annimmt. Eine nackte Herausforderung der USA aber werden die EU-Staaten tunlich vermeiden. Die Gründe lassen sich bei einem Blick auf die militärische Stärke und die vorhandenen Atomwaffenarsenale der USA leicht erkennen. Demgegenüber werden die Führungsmächte der EU versuchen, durch größere Sympathiewerte bei einheimischen Regimen der so genannten Dritten Welt – auch im arabischen Raum – zu punkten und damit in ihre angestrebte Vermittlerrolle zu kommen.

Kommen wir zurück zur zitierten Passage aus Kritik und Krise. Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, die unterschiedlichen Beziehungsebenen einfach durcheinander zu werfen. Da sind, erstens, die israelischen Ansprüche oder Kritikpunkte gegenüber dem postnazistischen Deutschland. Sie sind von einer Linken in Deutschland und anderswo unbedingt zu verteidigen. Da sind, zweitens, die Stellung Israels gegenüber den Palästinensern, seinen arabischen Nachbarn, aber auch seine Einbettung in die allgemeinen Nord-Süd-Beziehungen.

Zu letzteren gehört auch die israelische Rolle in weiten Teilen der so genannten Dritten Welt, die keineswegs aus einer Verschwörung, sondern aus Israels engem weltpolitischen Bündnis mit den USA resultiert. Da wäre etwa die Präsenz israelischer Militärberater, jedenfalls bis zum Ende des Kalten Krieges, in lateinamerikanischen Diktaturen oder afrikanischen Ländern. Da ist das enge geostrategische Bündnis, das bis zum Ende des dortigen Apartheidsystems 1990 zwischen Südafrika und Israel bestanden hat und eine enge militärische und nukleare Kooperation einschloss. Kitt dieses Bündnisses war eine Sichtweise, derzufolge beide Länder pro-westliche »belagerte Wagenburgen« in feindlicher Umgebung darstellten.

Es ist sicherlich unsere Aufgabe, israelische Kritik am Antisemitismus und am deutschen Staatsapparat zu verteidigen. Aber der nonchalante Gestus, in dem deutsche Nachfahren der Täter mal eben auch – ungefragt – zum Beispiel die politischen Forderungen und Rechte der Palästinenser an den israelischen Staat abtreten, ist ebenso politisch lächerlich wie menschlich widerwärtig.

Außerdem gilt es, nicht aus dem Blickfeld zu verlieren, dass Israel eine Gesellschaft und kein essenzialistisch als homogener Block zu sehendes »Volk« ist, in der es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie die Interessen seiner Bevölkerung am besten zu wahren sind. Israelische Bürger sind dabei Menschen wie andere auch, die man als solche und mit ihren Gedanken ernst nehmen muss – die also ebenso gut fortschrittlich wie reaktionär, humanistisch oder militaristisch orientiert sein können.

Aus der Sicht mancher Politiker in Israel und vor dem Hintergrund der historischen Traumata des jüdischen Volkes verspricht nur militärische Stärke auf unabsehbare Dauer Sicherheit. Andere antworten darauf, dass eine solche Sicherheit längerfristig unsicher gebaut ist, sofern sie beinhaltet, dass Menschen auf lange Sicht an Checkpoints schikaniert werden oder nicht den gleichen Zugang zu Trinkwasser und landwirtschaftlichem Boden haben wie die Nachbarn, die in einer befestigten Siedlung wohnen, und solange solche Siedlungen immer weiter gebaut werden. Das ist eine ernst zu nehmende Debatte. Doch manche deutsche Linke wollen nicht einmal die Frage verstehen. So kommen bei Ralf Schroeder zwar »palästinensische Halswickel« und »palästinensischer Terror« vor, aber keine palästinensischen Menschen. Ob den Menschen in Israel auf Dauer damit geholfen ist, wenn deutsche Linke den Kopf in den Sand stecken und Probleme leugnen, die auf die Zukunft aller Bewohner des Nahen Ostens bedeutenden Einfluss haben? Wohl kaum.