Freiheit für alle!

In Griechenland wurden die Anklagen gegen zwölf Personen, die während des EU-Gipfels im Juni 2003 verhaftet wurden, fallen gelassen. von harry ladis, thessaloniki

Manchmal bist du unterwegs und musst pinkeln und es gibt keine Toilette. Plötzlich taucht eine nette Kneipe auf und du denkst: »Gibt es denn Gott?«.

In Thessaloniki waren 12 Angeklagte inhaftiert, wollten raus und hatten keine Aussicht auf einen Freispruch. Doch dann bekamen sie vom Richter ein gründlich durchgearbeitetes Urteil und sie dachten: »Gibt es denn eine Gerechtigkeit?«

Vor zwei Wochen veröffentlichte das zuständige Amtsgericht in Thessaloniki seine Entscheidung zu den Anklagepunkten gegen die Personen, die während des EU-Gipfels im Juni verhaftet worden waren. Die große Überraschung für alle Beteiligten war, dass die Anklage gegen zwölf von ihnen fallen gelassen wurde. Man hatte allgemein erwartet, dass den Richtern, wie bisher immer in ähnlich gelagerten Fällen, die widersprüchlichen und von sonstigen Beweisen nicht untermauerten Belastungsaussagen der Polizisten genügen würden, um die Verhafteten vor ein Geschworenengericht zu bringen. Dort hätten ihnen Haftstrafen von fünf bis 20 Jahren gedroht.

Doch dem war nicht so.

Das Bemerkenswerte an den Freisprüchen ist, dass die Richter den Aussagen der Polizisten keinen Glauben schenken, dass sie die Widersprüche und Lücken in deren Aussagen nicht ignorieren und dass sie stattdessen große Teile der Argumentation der Verteidigung übernehmen.

Der spektakulärste Fall im Zusammenhang mit den eingestellten Verfahren ist der des Engländers Simon Chapman. Ihm wurde ein Rucksack voller Molotowcocktails in die Schuhe, genauer vor die Schuhe, geschoben. Zufällig bekam ein Reporter der Nachrichtenagentur Reuters die Manipulation von Beweismitteln mit. Er dokumentierte den Vorgang auf einem Videoband. Die fünf Monate später vom Bundesstaatsanwalt befohlene Untersuchung wurde jedoch mit der unglaublichen Begründung eingestellt, der Reporter habe das Video montiert.

Die Amtsrichter in Thessaloniki haben mit ihrer Entscheidung, das Verfahren gegen Chapman einzustellen, zwar die Möglichkeit offen gelassen, die Polizisten hätten sich im entstandenen Chaos geirrt, die Zurückweisung der Anklagen, gilt aber als das erste gerichtliche Dokument, das eine polizeiliche Intrige offiziell nahe legt.

Elf Verhaftete müssen allerdings weiterhin in den nächsten Monaten mit einem Verfahren rechnen. Ihnen werden Straftaten wie schwerer Landfriedensbruch und die Teilnahme an einer gewalttätigen Demonstration vorgeworfen, die Haftstrafen bis fünf Jahre mit sich bringen könnten, die aber wahrscheinlich zur Bewährung ausgesetzt werden. Die Angeklagten befinden sich nicht mehr in Untersuchungshaft und erhielten auch keine Meldeauflagen. Weitere fünf Personen, die sich im November an einem Hungerstreik beteiligten hatten, bleiben in Haft. Sieben Hungerstreikende entließ das Amtsgericht bereits Ende November mit Meldeauflagen aus der Haft. (Jungle World, 50/03)

Der spanische Anarchosyndikalist Carlos Martin Martinez beteiligte sich auch an dem Hungerstreik. Er ist einer derjenigen, denen weiterhin ein Verfahren droht. Allerdings wurde er aus der Untersuchungshaft entlassen. Martinez war anfänglich von der griechischen Presse zu einem »international gesuchten baskischen Anarchisten« stilisiert worden. Er wurde willkürlich wegen des angeblichen Besitzes und Gebrauchs von Explosivmaterialien angeklagt. Dafür saß er fünf Monate in Untersuchungshaft. Die griechische Polizei versuchte , eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit ihren spanischen Kollegen zu präsentieren. Das Ganze entpuppte sich jedoch als große Blamage für die Griechen. (Jungle World, 41/03)

Im Moment läuft eine Untersuchung der Vorwürfe, Martinez sei gefoltert worden. Als der Hungerstreikende am 6. November als erster in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, begleitete ihn ein großes Polizeiaufgebot. Darunter befanden sich auch mehrere Antiterror-Einheiten. Beamte, die Hasskappen trugen - bezeichnenderweise gilt für die Antiterror-Einheiten kein Vermummungsverbot - fesselten Martinez während der Nacht an einen Stuhl. Zudem hinderten sie ihn am Schlafen, in dem sie das Licht an- und ausmachten, die Fenster öffneten und schlossen und indem sie ihn schlugen. Martinez erklärte, dass vor seinen Augen gegessen, Kaffee getrunken und geraucht wurde. Immer wieder hätten sie so getan, als ob sie ihn zum Essen einladen wollten. Dieses Verhalten wird gemeinhin als Folter bezeichnet.

Martinez erstattete Anzeige, allerdings ist es sehr fraglich, ob die Staatsanwaltschaft in diesem Fall die Ermittlungen aufnehmen wird. In den vergangenen 20 Jahren, seit in Griechenland die Folter gesetzlich verboten ist, wurde kein einziger Polizist deswegen verurteilt.

Die überraschende Entscheidung des Amtsgerichts in Thessaloniki kann dennoch nicht als einmaliger Vorgang angesehen werden. Sie ist kein Werk von ein paar netten Richtern in Anbetracht der Tatsache, dass die Vorgänge um den EU-Gipfel monatelang für Schlagzeilen sorgten und zu einer Regierungskrise führten. Man könnte vielleicht annehmen, wenige Wochen vor den Parlamentswahlen wolle die Regierung keine neuen Spannungen provozieren. Doch diese Erklärung greift nicht weit genug, da dies leicht hätte umgegangen werden können, wenn die Entscheidung einen Monat später gefallen wäre.

Wichtiger ist, auf den koordinierten Kampf der hungernden Gefangenen hinzuweisen und auf ihre Unterstützer, in Verbindung mit einer breiten internationalen Solidarität. Von Besetzungen von öffentlichen Gebäuden und Medienzentralen bis zu sehr gut besuchten Solidaritätsdemonstrationen ist vieles passiert, um die Öffentlichkeit für die Freilassung der Gefangenen zu gewinnen. Zumindest teilweise scheiterte daran auch der Versuch der griechischen Regierung, vor den Olympischen Spielen im Sommer 2004 sichtbare Ergebnisse im Bereich der inneren Sicherheit zu präsentieren.