Das Leben, ungetürkt

In Fatih Akins Film »Gegen die Wand« kommen Leute auf die Leinwand, die sonst bei »Vera am Mittag« sitzen – die junge tätowierte Schlampe, der ramponierte Kleinkriminelle. von jürgen kiontke

Es gibt Leute wie die Sprecherin des Arbeitgeberverbandes der türkischen Industrie, Mehpare Bozyigit-Kirchmann, die haben echte Probleme: »Erst musste ich ein Büro finden, dann schöne Möbel. Leider gibt es in Berlin keine gute Auswahl, so dass ich schließlich Designermöbel in Italien bestellen musste. Das dauerte eben«, erzählte sie der taz.

Bozyigit, langjährige Journalistin und promovierte Sozialwissenschaftlerin, lebte zuvor mit ihrer Familie in Deutschland, den USA und Japan, wo sie fünf Jahre Bambusblätter zeichnete. Gemeinsam mit ihrem Mann schrieb sie einen Roman über drei junge türkische Frauen.

Sie hat offensichtlich alles richtig gemacht. Sie gehört also nicht zu den arbeitslosen türkischstämmigen Berlinern aus Neukölln. Im Kino kommt kaputt aber besser. Da gibt es dann eher solche Leute wie Cahit Tomruk (Birol Ünel), Alkoholiker und Hilfskellner. Er rast mit dem Auto frontal gegen eine Betonmauer, überlebt aber. Anschließend landet er in der geschlossenen Abteilung. Ein vorstellbares Schicksal.

Während Frau Bozyigit real in Berlin reüssiert, ist Tomruk nur eine Filmfigur. Aber eine, die in Fatih Akins Film »Gegen die Wand« die Hauptrolle ist. Der Film erhielt auf den diesjährigen Berliner Filmfestspielen den goldenen Bär.

Immerhin: Offensichtlich ist die Geschichte der türkischen Einwanderer in Deutschland eine große Erzählung, die verschiedene Biografien möglich macht. Und so verrät »Gegen die Wand« eine Menge über gescheiterte Existenzen und Beziehungen, über Sprachlosigkeit und durcheinander gewürfeltes Leben. Akin zeigt seine Helden Cahit und Sibel (Sibel Kekilli) als von der Globalisierung Gebeutelte. Traditionen und Gebräuche leben fort. Aber insgesamt haben sie weniger Bedeutung. Cahit und Sibel sind entwurzelte Figuren auf einem beinahe zufällig entstandenen Tableau: Da ist die Industrie Deutschlands, die irgendwann in ihrer Geschichte auf Arbeiter aus dem Ausland angewiesen war und damit ein Kapitel öffnete, dass manche am liebsten wieder schließen würden. Und da sind der versoffene Migrantensohn, die lebenslustige Tochter, die konservativen Eltern, der onkelhafte Arbeitskollege, die multibiografischen Popstars – das alles in drei Sprachen: Welche Deutsche versteht die Gespräche älterer Türkinnen über die sexuellen Fähigkeiten ihrer Männer?

Im Kino mag jeder für sich entscheiden, wessen Version er lieber sieht. Säufer lernt 20 Jahre jüngere Selbstmörderin kennen. Sibel, das Mädchen, möchte ihn heiraten, damit sie endlich zu Hause rauskommt. Cahit, der Trinker, will sie sich vom Hals halten. Wie das so geht: Erstaunlich schnell sind die beiden ein Paar von Vaters Segen. Während Sibel die halbe Stadt vögelt, wird Cahit zusehends eifersüchtig – dabei war ein Beziehungsleben gar nicht geplant. Die beiden teilen die Wohnung, nicht das Leben.

Die Scheinehe wird ernst: Cahit erschlägt einen Verehrer. Und sie verspricht, auf ihn zu warten, solange er für seine Tat im Gefängnis sitzt. Als Cahit Jahre später entlassen wird, hat Sibel ein neues Leben begonnen. In Istanbul, mit Kind und Mann. Also ein Film über die gescheiterte Liebe.

Oder »Gegen die Wand« selbst ist das Projekt, ein integratives obendrein. Die Boulevardpresse hat’s platt gewalzt: Hauptdarstellerin Sibel Kekilli hat früher Pornos gedreht. Es ist rausgekommen, und Kekilli geht ungemein selbstsicher mit den Massenmedien um. Wo der Film endet und die Wirklichkeit anfängt, keiner weiß es: Angeblich wollen ihre Eltern kein Wort mehr mit ihr wechseln, na, etwas anderes hätte uns ja auch gewundert. Ja, lautet die Erzählung, die türkischen Töchter haben es wirklich schwer mit ihren traditionsbesessenen Eltern. Kopftuchstreit, Verteidigung der Familienehre, Mädchen an den Cousin verkauft, Zwangsehe, Angela Merkel auf Türkei-Besuch, Moschee in Berlin-Neukölln acht Meter zu hoch gebaut, Fenerbahce, Mord und Totschlag, Knast, Drogen, feministische Befreiung, Pornografie, Hamburg Hauptbahnhof, aber Rückseite: Die Eltern, sie wollen bei ihrem Kind nicht zulassen, womit so manche Frau ihr Geld verdient. Filmheld Birol Ünel hat ein Strafregister wie weiland der aus Bayern abgeschobene Jugendkriminelle Mehmet.

Der deutschtürkische Kulturkampf ohne Klischees, glaubwürdig auf der Leinwand: aus drei Blickwinkeln – dem deutsch-deutschen, dem deutsch-türkischen und dem türkischen, und wenn alles nicht weiterhilft, und es hilft alles nicht weiter, auch noch aus dem englischen. Akin: »Ich habe mich bemüht, aus diesen drei sehr unterschiedlichen Betrachtungsweisen eine Schnittmenge zu bilden.«

Ist es nicht schön? Kriminelle Migranten werden in den rot-grünen Kosmos der Popkultur integriert; Regisseur Fatih Akin steht für erfolgreiche Integration, neorealistisches Kino der Türkei, Yilmaz Güney, Emine Sevgi Özdamar – nein, die Geschichten von Cahit, Sibel und Fatih liefern ein allzu perfektes Sequel zum diesjährigen Berlinale-Gewinner. Wenigstens liefern ihre zur Klischeeordnung gerufenen Lebensläufe heißere Informationen als die des Films deutschstämmiger Provenienz: Da stellt man sich immer vor, Katja Riemann hüpft nackt über die Leinwand im Nazi-Ambiente, und hinterher erzählt sie, wie ungern sie sich interviewen und fotografieren lässt.

In Akins Film aber sind die am Start, die sonst bei Vera am Mittag auf dem Sofa sitzen – die junge tätowierte Schlampe, der ramponierte Kleinkriminelle. Man sitzt im Kino und glaubt es kaum. Da wurden Form und Inhalt in Einklang miteinander gebracht. Nicht nur Mehpare Bozyigit vom türkischen Bund der Industriellen hat alles richtig gemacht. Auch an Akins Filmprojekt ist das Meiste gelungen.

Laut Presse verhängte die Berliner Ausländerbehörde gegen Birol Ünel eine Ausweisungsverwarnung. Vorstrafen soll er wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Betrug haben. Und wenn er mal gegen die Wand fährt, tut er das ganz ohne Führerschein.

Bei der nächsten Verurteilung muss er Deutschland verlassen. Da benimmt er sich schon wie Martin Semmelrogge und Klaus Kinski zusammen und soll nicht bleiben dürfen. So geht das Land mit seinen Stars um. Immerhin: Er hat sich bemüht.

Punkt zwei zum Thema Integration: Wenn Fatih Akin die nackte Katja Riemann dreht und Birol Ünel einen Wehrmachtsgeneral spielen darf, ist sie abgeschlossen. Zu dem Zeitpunkt darf die Türkei dann auch in die EU. Zum Glück ist der türkische Unternehmerverband schon angekommen. Zum Glück hat dieser Film für Migranten mit Migration nichts am Hut.

Schriftsteller Feridun Zaimoglu hat im Interview mit der Jungle World (11/04) gesagt: Dieser Film sei eine Zäsur, ein existenzielles Drama.

»Candle Light Dinner oder einer mit dem Bausparvertrag?« fragen sich junge Frauen in einem aktuellen Werbespot für Versicherungen. »Und am nächsten Tag sind die Kerzen niedergebrannt, und der Typ ist verschwunden«, heißt es weiter. »Dann A, der mit dem Haus«, lautet die Antwort. Das Existenzielle in »Gegen die Wand«: Irgendjemand entscheidet sich immer für das Haus. In diesem Fall ist es Sibel. Liebesbeziehungen bleiben auch nur brav auf dem Boden ökonomischer Verhältnisse, erzählt Akins Film, Befreiung von der Tradition hin oder her, Türkei hin, Deutschland her.

Das Kino, so schön und rund, wie es in diesem Falle ist, weiß in diesem Fall auch keine Antwort auf die Frage, was mit denen wird, die kein Haus haben. Willkommen im Kino der Unbehausten. Da war es schon immer am gemütlichsten.

»Gegen die Wand« (D/T 2003). R: Fatih Akin. Start: 11. März