Hört uns jemand?

Das Bundesverfassungsgericht hat den Großen Lauschangriff in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Trotzdem wird weiter abgehört. von oliver tolmein

Während sich die Kläger in Karlsruhe in der vorigen Woche darüber freuten, dass die Vorschriften der Strafprozessordnungen, die das Abhören von Privatwohnungen erlaubten, vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig bezeichnet wurden, meldete das Bundesjustizministerium: »Karlsruhe bestätigt: ›Großer Lauschangriff‹ verfassungsgemäß.«

Der Erste Senat des höchsten deutschen Gerichts traf in der vorigen Woche allerdings keine salomonische, sondern eine höchst pragmatische Entscheidung. Indem er die Paragraphen 100c, 100d , 100f und 101 der Strafprozessordnung, soweit sie das Abhören des gesprochenen Wortes in Wohnungen betreffen, als »nicht in vollem Umfang« verfassungsgemäß bezeichnete und gleichzeitig die Änderungen des Artikel 13 Absatz 3 Grundgesetz als Grundlage für künftige neue Regelungen akzeptierte, legte er die Basis für einen politischen Kompromiss, der die polizeiliche Überwachungsarbeit im Dienst der Strafverfolgung nicht nachhaltig behindern wird.

Denn unmittelbar nach der Entscheidung, die unter anderem gerügt hatte, dass der Lauschangriff auch bei Delikten aus dem Bereich der mittleren Kriminalität, wie Geldwäsche, Verschleierung unrechtmäßig erlangter Vermögenswerte oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, angewandt werden kann, teilte das Bundesjustizministerium mit: »Diejenigen Straftatbestände, deren Einbeziehung das Gericht für verfassungswidrig erklärt hat, waren bislang in der Praxis nicht Grundlage für eine akustische Wohnraumüberwachung. Fast 90 Prozent der Anwendungsfälle einer akustischen Wohnraumüberwachung betreffen Tötungs- und Betäubungsmitteldelikte und damit besonders schwere Straftaten. Deren Einbeziehung hat das Gericht für verfassungsmäßig erachtet.«

Immerhin haben die acht Richter des Ersten Senats, dessen Vorsitz der Präsident des Bundesverfassungsgerichts innehat, der konservative Rechtswissenschaftler Hans-Jürgen Papier, an eine Neuregelung der strafprozessualen Vorschriften hohe Anforderungen gestellt. Da die Möglichkeit, sich abgeschottet von unerwünschten Dritten in der eigenen Wohnung zu unterhalten und zu äußern, Ausdruck der Menschenwürde sei, verlangen die Bundesverfassungsrichter: »Ein Abhören des nichtöffentlich gesprochenen Wortes in Wohnungen hat zur Vermeidung von Eingriffen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu unterbleiben, wenn sich jemand allein oder ausschließlich mit Personen in der Wohnung aufhält, zu denen er in einem besonderen, den Kernbereich betreffenden Vertrauensverhältnis steht – etwa mit Familienangehörigen oder sonstigen engsten Vertrauten – und es keine konkreten Anhaltspunkte gibt, dass die zu erwartenden Gespräche nach ihrem Inhalt einen unmittelbaren Bezug zu Straftaten aufweisen (…) Sollte im Rahmen einer Wohnraumüberwachung eine Situation eintreten, die dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen ist, muss die Überwachung abgebrochen werden. Dennoch erfolgte Aufzeichnungen sind zu vernichten. Die Weitergabe und Verwertung der gewonnenen Informationen sind untersagt.«

Die Kläger gegen den Großen Lauschangriff hoffen nun darauf, dass die verfahrensrechtliche Durchsetzung dieser Anforderungen nahezu unmöglich sein wird und das Abhören von Wohnungen künftig unterbleibt. Doch das gegenteilige Szenario ist wahrscheinlicher: Der Bundestag, der 1998 der Verfassungsänderung mit deutlicher Zweidrittelmehrheit zustimmte, beschließt neue strafprozessuale Vorschriften, die den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts zwar formal gerecht werden, ihnen in der Praxis so strikt aber nicht entsprechen.

Deswegen ist das Sondervotum der beiden Richterinnen Christine Hohmann-Dennhardt und Renate Jaeger konsequenter, das sich grundsätzlich gegen die Verfassungsänderung wendet. Ihre Argumentation konzentriert sich auf das eigentliches Thema: Inwieweit darf das überhaupt geändert werden? Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz zieht eine klare Grenze: »Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche (…) die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.«

JuristInnen bezeichnen das als »Ewigkeitsgarantie«. Die Reichweite dieser Ewigkeitsgarantie hat schon öfter eine wichtige Rolle gespielt, besonders in dem 1970 vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts entschiedenen Verfahren über den 1968 im Zuge der Notstandsgesetzgebung neu gefassten Artikel 10 des Grundgesetzes. Dieser legt seitdem fest, dass eine Beschränkung des Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnisses dem Betroffenen nicht mitgeteilt werden muss und deswegen an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch ein Sondergremium tritt.

Auch diese Verfassungsänderung war als Verstoß gegen die Ewigkeitsgarantie verstanden worden. Die Entscheidung ging aber nicht nur deshalb in die deutsche Rechtsgeschichte ein, sondern auch, weil damals zum ersten Mal drei Richter von der neu geschaffenen Möglichkeit Gebrauch machten, ein Sondervotum zu verfassen.

Fabian von Schlabrendorff, einer der wenigen Überlebenden des 20. Juli 1944, und seine Richterkollegen Gregor Geller und Hans Rupp formulierten mit Blick auf die damals oft bemühte Formel von der »streitbaren Demokratie« den Grundsatz: »Es ist ein Widerspruch in sich selbst, wenn man zum Schutz der Verfassung unveräußerliche Grundsätze der Verfassung preisgibt.«

Die drei Richter hatten damals schon eine Vision, wohin der eingeschlagene Weg führen könnte: »Die Verfassungsänderung ist um so bedenklicher, als der darin verwirklichte Gedanke im Wege der Verfassungsänderung auch in andere Bereiche übertragen werden kann. So könnte der einfache Gesetzgeber ermächtigt werden, in Abänderung des Paragrafen 136a Strafprozessordnung so genannte ›verschärfte Vernehmungen‹ zuzulassen, wenn dies dem Schutz der Verfassung oder des Bestandes des Staates dienlich wäre. So könnte Artikel 13 Grundgesetz dahin erweitert werden, dass unter bestimmten Voraussetzungen Haussuchungen ohne Zuziehung des Wohnungsinhabers vorgenommen und dabei auch Geheimmikrofone angebracht werden dürften. Man mag davon ausgehen, dass in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie alle Normen ›korrekt und fair‹ angewendet und die Geheimdienste entsprechend kontrolliert werden. Ob dies aber für alle Zukunft gesichert ist, und ob der mit der Verfassungsänderung vollzogene erste Schritt auf dem bequemen Weg der Lockerung der bestehenden Bindungen nicht Folgen nach sich zieht, vermag niemand vorauszusehen.«

In ihrem Sondervotum nahmen in der vorigen Woche die von der Mehrheitsmeinung abweichenden Richterinnen auf diese Überlegungen Bezug. »Wenn aber selbst die persönliche Intimsphäre, manifestiert in den eigenen vier Wänden, kein Tabu mehr ist, vor dem das Sicherheitsbedürfnis Halt zu machen hat, stellt sich auch verfassungsrechtlich die Frage, ob das Menschenbild, das eine solche Vorgehensweise erzeugt, noch einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie entspricht.«

Dass derlei nicht von notorischen Staatsfeinden und Fundamentaloppositionellen gedacht und geschrieben wird, ist das eigentlich Bemerkenswerte an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dass sich diese hellsichtige und bittere Passage in der ausführlichen Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts nicht wiederfindet und dass sie auch von kaum einem Medium wahrgenommen wurde, passt dagegen ins Bild. Die rot-grüne Bundesregierung hat die staatliche Offensive gegen die Freiheitsgarantien nicht gestoppt, aber sie hat der Opposition dagegen viel von ihrer Entschlossenheit genommen.