Bruder in Bedrängnis

Der Druck der USA könnte zu einer Lockerung der syrischen Libanon-Politik führen. von karl tachser

Bis heute ist nicht eindeutig erwiesen, wer Kamal Jumblatt, den Gründer der drusischen Fortschrittlichen Sozialistischen Partei (PSP), 1977 ermorden ließ. Doch dass dem damaligen syrischen Präsidenten Hafez al-Assad Jumblatts Kritik an seiner Rolle im Libanon nicht passte und er ihn deshalb beiseite schaffen ließ, gilt als wahrscheinlich. Umso mutiger erscheint die Forderung seines Sohnes Walid Jumblatt, ein Referendum über die syrische Besatzung des Libanon abzuhalten. Der derzeitige PSP-Vorsitzende erhob sie Anfang März vor internationalem Publikum, in der von der BBC ausgestrahlten Interviewsendung »Hard Talk«.

Auch mehr als zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Eingreifen syrischer Truppen in den libanesischen Bürgerkrieg ist »Marionettenregime« noch eine milde Umschreibung für das dortige Regime, das selbst Diplomaten in Beirut unumwunden als »Appendix Syriens« bezeichnen. Auf die Frage, ob er nach seiner Rückkehr aus London wirklich ein Referendum fordern werde, antwortete Jumblatt: »Ich mag Konfrontationen. Ich bin bereit für jede Art von Herausforderung.«

Die Chancen auf einen allmählichen Rückzug der rund 12 000 im Libanon stationierten syrischen Truppen dürften zur Zeit so gut stehen wie selten seit Ende der siebziger Jahre. Und nicht nur, weil Präsident Bashar al-Assad seit dem Tod seines Vaters 2001 eine – wenn auch zurückhaltende – Politik der Entspannung betreibt. Erst Mitte Februar ließ das Regime 130 politische Gefangene frei. Ein Tropfen auf den heißen Stein, denn weiterhin werden mehr als 3 000 Häftlinge aus politischen Gründen in Gefängnissen gehalten, und die Entlassenen waren zumeist krank oder hatten ihre Haftstrafe längst abgesessen, aber dennoch ein Zeichen der Lockerung. Anfang Januar hatte Syriens Premierminister Mohammed Naji Otari außerdem angekündigt, dass er das Verhältnis mit dem Libanon auf eine neue Grundlage stellen wolle.

Dass Syrien bereit ist, Konzessionen an das offiziell als »Bruderstaat« bezeichnete Nachbarland zu machen, dürfte jedoch weniger auf eine Abkehr Assads von der Hegemonialpolitik seines Vaters zurückzuführen sein als auf den seit Monaten anhaltenden Druck der US-Regierung. Mehr als 100 000 GIs stehen seit Beginn der Besatzung des Irak vor rund einem Jahr an der Grenze zu Syrien. Darüber hinaus hat der US-Kongress im Dezember den Syrian Accountability and Lebanese Sovereignity Restoration Act erlassen, der neben der Auslieferung mutmaßlicher islamistischer Terroristen den Rückzug der syrischen Truppen aus dem Libanon fordert.

Die Rolle Assads als Außenseiter in der arabischen Welt verstärkte sich, als Libyen Anfang des Jahres der Entsendung von internationalen Experten zur Begutachtung seines Atomprogramms zustimmte. Denn nicht nur Washington fordert eine Offenlegung möglicher Programme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen, auch die EU legte die eigentlich bereits im Dezember geplante Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens vorerst auf Eis, weil es nach einem auf ihrem Gipfel in Thessaloniki gefassten Beschluss die Ächtung von ABC-Waffen enthalten muss. Nur Assads von politischen Beobachtern als »historisch« eingestufter Besuch in Ankara Mitte Januar und der Schulterschluss mit dem Iran in der Ablehnung einer autonomen Kurdenregion im Nordirak verschafften ihm zuletzt diplomatisch etwas Luft.

Assad bestreitet einerseits die Anschuldigungen der Administration in Washington, Syrien unterstütze den internationalen Terrorismus, sieht sich andererseits aber zu beschwichtigenden Signalen gezwungen. Der Beginn von Rückzugsverhandlungen ist für ihn möglicherweise einfacher als die Zerschlagung von womöglich existierenden Ausbildungslagern terroristischer Gruppen. Das Treffen von Syriens Premier Naji Otari und seinem libanesischen Kollegen Rafik Hariri im Januar bildete den Auftakt einer ganzen Reihe von Gesprächen, die eventuell noch dieses Jahr zu einer Neuordnung des bisherigen Verhältnisses führen könnten.

Neben dem Abzug der syrischen Truppen dürfte dabei nicht zuletzt die Rolle der im libanesischen Parlament mit neun Abgeordneten vertretenen Hizbollah auf dem Programm stehen. Sie gilt als eines der Haupthindernisse für die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen mit Israel. Das US-Gesetz verlangt von Damaskus und Beirut gleichermaßen »die Aufnahme ernsthafter, bedingungsloser bilateraler Verhandlungen« mit Israel.

Assad hatte erst im Dezember angeregt, die vor knapp vier Jahren abgebrochenen Verhandlungen über eine Rückgabe der 1967 von Israel besetzten Golan-Höhen wieder aufzunehmen. Ein Angebot, über das die Regierung Ariel Sharons bislang jedoch nicht annehmen will. Nach dem Beschuss eines Minenräumpanzers durch die Hizbollah an der Grenze zwischen Libanon und Israel im Januar machte US-Außenminister Colin Powell deutlich, dass Syrien dafür verantwortlich sei, die schiitische Organisation an die Leine zu nehmen. »Wir glauben, dass alle Parteien, die Interesse an Frieden in der Region haben, diese Art von Aktionen der Hizbollah verurteilen sollten.«

Dennoch ist unklar, inwieweit die US-Regierung dem syrischen Drängen auf eine Wiederaufnahme der Anfang 2000 abgebrochenen Gespräche mit Israel noch widerstehen kann. So ist Sharon Zeitungsberichten zufolge von Washington angehalten worden, die Situation an seiner Nordgrenze nicht eskalieren zu lassen. Syriens Parlamentssprecher Mahmoud al-Abrash bekräftigte erst Ende Februar die Bereitschaft Syriens zu Friedensverhandlungen mit Israel. Und auch innerhalb von Sharons rechtskonservativem Likud gibt es Stimmen, die Syriens schwache Position ausnutzen wollen, um bei Neuverhandlungen mehr herauszuholen als es dem damaligen Premierminister Ehud Barak bis zum Abbruch der Gespräche Anfang 2000 gelang.

Der Syrian Accountability Act werde »sehr bald« und »sehr hart« durchgeführt, kündigte William Burns, Staatssekretär für den Nahen Osten, in der vergangenen Woche den auf Sanktionen drängenden US-Parlamentariern an. Dennoch ist ungewiss, ob Powell den harten Kurs des Verteidigungsministers Donald Rumsfeld unterstützen wird. Der von der syrischen Regierung im Januar bekannt gegebene Abschluss eines Vertrages mit der US-Ölfirma Improvic Petroleum Recovery weist darauf hin, dass es Washington bei der Umsetzung des Syrian Accountabiliy Act möglicherweise nicht so genau nehmen wird. Der Vertrag räumt der Firma die Erkundung und kommerzielle Verwertung von im Nordosten des Landes vermuteten Ölfeldern ein – für Diplomaten in Damaskus »eine positive politische Botschaft der US-Administration an Syrien«.